- (bro)
Verdünnung (2) Um die berühmten Verdünnungen zu
bekommen, beginnt man mit der Mutter-Tinktur, das heißt mit der ersten Verdünnung
eines Grammes der auserwählten Substanz in hundert Tropfen Alkohol. Dann verdünnt
man einen Tropfen der Mutter-Tinktur in weiteren hundert Tropfen Alkohol und
man bekommt die erste Hunderter-Verdünnung. Von der in dieser Weise hergestellten
Verdünnung nimmt man einen Tropfen (mit einem normalen Tropfenzähler, den man
in jeder Apotheke kaufen kann), verdünnt ihn mit weiteren hundert Tropfen Alkohol
und gewinnt die zweite Hunderter-Verdünnung. Bei der neunten Hunderter-Verdünnung
haben wir folgendes numerisches Verhältnis: eins zu eins gefolgt von achtzehn
Nullen, was eine hyperbolische Zahl ist. Ein Tropfen der auserwählten Substanz
(Mutter-Tinktur) ist an diesem Punkt eine Million von milliardenmal um sein
Volumen verdünnt. Man kann fortfahren, aber die Spuren der auserwählten Substanz
sind praktisch verschwunden. Die Energie bleibt. Bevor man jeder neuen Verdünnung
einen Tropfen entnimmt, muß man den Behälter heftig schütteln. Diese Handlung
nennt man Sukkussion. Die Wirkung der Sukkussion ist die Dynamisierung, das
heißt, die Energie bleibt, während die Materie verschwindet. Diese Prozedur
habe ich nicht erfunden; sie wurde gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts von
Samuel Hahnemann erfunden. Mit diesem System
erweckt man die Energie aus dem Nichts,
das heißt aus der Antimaterie. Die Substanz der Mutter-Tinktur ist eine persönliche
Sache, jeder kann sie nach seinen eigenen Bedürfnissen oder seinen eigenen Wünschen
wählen. - Luigi Malerba, Die Schlange. München 1992 (zuerst
1966)
Verdünnung (3) Wer die Toten für schwerhörig
hält, vermutet den Tod als eine Explosion, welche die
Verstorbenen taub machen kann, sodaß das Sprechen mit ihnen nicht nur äußerst
schwer, sondern sogar von lächerlicher, zweideutiger und farcenhafter Schwierigkeit
ist. Wir glauben, daß der Tod wohl explosive Feuertür zum Empyrium
sei, aber nicht außerhalb des Versterbenden, sondern in seinem Inneren. Sodaß
dieser, im Sterben, sich unglaublich ausdehnt und
folglich auflöst und verdünnt. In diesem Fall läge
die wahre Schwierigkeit darin, daß die Toten übertriebene Dimensionen haben,
dünn und gasartig, ausladend wie Kontinente, Planetoiden
und Planeten. Und auf gewisse, damit verbundene Probleme soll hier gar nicht
eingegangen werden: etwa ob eine derartige Rarefikation die gleichzeitige Gegenwart
mehrerer Toten im selben Raum zuläßt, die mit aufmerksamer Auswahl auszumachen
seien; oder ob hingegen die Luftähnlichkeit der Verstorbenen sie dazu zwingt,
sich von einander in großem Abstand zu halten, aufdaß sie freizügig herumschlittern
und gummihaft von Ort zu Ort springen können. - Giorgio Manganelli, Diskurs über
die Schwierigkeit, mit den Toten zu sprechen. In: G. M., An künftige Götter.
Sechs Geschichten. Berlin 1983 (zuerst 1972)
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