erb  Was für eine enorme Erfindung ist doch das Verb, noch viel phantastischer als Nomina, Adjektive, Numeralien, Artikel und dergleichen! Sicher, daß man einem Ding einen Namen gibt und ihn dann auf alle Dinge mit den gleichen Eigenschaften überträgt, ist keine geringe Leistung, besonders wenn man bedenkt, wie unterschiedlich Bäume, Blumen oder Hunde im einzelnen ausfallen, wie vielfältig die Eigenschaften der verschiedenen Dinge sein können und wie schwer faßbar, wenn sie aus den abstrakteren Gefilden der vielen möglichen Welten stammen. Natürlich sind Verben zunächst auch nur Namen für Eigenschaften oder Beziehungen und in diesem Punkt nicht anders als Adjektive oder Präpositionen. »Sitzen« ist eben ein bestimmtes Verhältnis von Dingen zueinander im Raum, das sich durch »auf« und »in«, »über« und »unter« nur noch genauer festmachen läßt. Aber selbst in dieser ruhigen, gewissermaßen statuarischen Ausgabe unterscheidet sich das Verb von allen anderen semantisch vergleichbaren Wörtern in einem ganz entscheidenden Punkt. Es steht nicht nur wie die anderen Wörter für die Bilder, die wir uns von den Dingen, ihren Eigenschaften und ihren Verhältnissen zueinander machen, es kann, anders als die anderen Wortarten, diese Bilder zum Laufen bringen. Da haben wir die Bäume vor dem Fenster und den Platz hinter dem Haus und den Mond am Himmel und dann nehmen wir ein paar Verben dazu und schon wird das nächtliche Stilleben zur Fümsequenz, die Birke bewegt leise ihre Zweige im Wind, über den Mond schiebt sich eine Wolke und gelegentlich fährt ein Auto über den Platz hinter dem Haus.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es ist die Bedeutung der Verben »sich bewegen«, »schieben«, »fahren«, durch die die Bilder lebendig werden, und solange der Garten hinter dem Haus liegt, der Mond am Himmel steht, der Kuckuck auf dem Baum sitzt, sei nicht mehr Leben in dem Bild mit Verb als in dem ohne Verb. Nur, die Präposition »auf« würde den Kuckuck für alle Ewigkeit auf seinem Baum festleimen, wenn ihm nicht das Verb mit seinen dynamischen Kräften zu Hilfe käme. Da kann der Kuckuck dann so lange oder so kurz auf dem Baum sitzen, gesessen haben oder sitzen werden, wie er möchte, das Verb bringt die Zeit ins Bild und damit die Veränderung, die Bewegung, das Leben. Es ist wie der Königsohn im Märchen, der mit seinem Kuß das schlafende Dornröschen im Turm aufweckt, den König und die Königin auf dem Thron, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dach, die Fliegen an der Wand, das Feuer in der Küche, und über diese Zauberkraft verfügt das Verb nicht, weil es die Bewegung der Dinge abbildet — das tut ja auch nur ein Teil der Verben —, sondern weil es die Dinge mit ihren Eigenschaften und Beziehungen zueinander in der Zeit verankert. So wie das Nomen mit der Kategorie Numerus die Zählbarkeit der Dinge im grammatischen System der Sprache festmacht, holt das Verb mit der Kategorie des Tempus die Zeit in unser sprachliches Bild von den Dingen. - Judith Macheiner, Das grammatisches Varieté oder Die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden. Frankfurt am Main 1991

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