Ventilsitte  Das Narrenfest zieht auch durch die christlichen Kirchen, und schon Augustin wettert dagegen. Theophylactus, Patriarch zu Konstantinopel, führte es im zehnten Jahrhundert in die griechische Kirche ein. Das Narrenfest lief dem Karneval voraus; sein Höhepunkt war die Parodierung der gottesdienstlichen Handlungen in den Kirchen, wobei der Narrenbischof den Vorsitz führte. Die Sorbonne verteidigte dieses Fest in einem Zirkularschreiben (1444) mit folgender Begründung: „Unsere Vorfahren, welche große Leute waren, haben dieses Fest erlaubt, warum soll es uns nicht erlaubt sein? Wir feiern es nicht im Ernst, sondern bloß im Scherz, und um uns, nach alter Gewohnheit, zu belustigen, damit die Narrheit, die uns eine andere Natur ist und uns angeboren zu sein scheint, dadurch wenigstens alle Jahre einmal austobe. Die Weinfässer würden platzen, wenn man ihnen nicht manchmal das Spundloch öffnete und ihnen Luft machte. Nun sind wir alle übel gebundene Fässer und Tonnen, welchen der Wein der Weisheit zerplatzen würde, ließen wir ihn durch immerwährende Andacht und Gottesfurcht fortgären; man muß ihm Luft machen, damit er nicht verdirbt. Wir treiben deshalb etliche Tage Possen, damit wir hernach mit desto größerem Eifer zum Gottesdienst zurückkehren können."   - Friedrich Georg Jünger, Die Spiele. München 1959

Ventilsitte (2) In Körper und Seele verdorben sind wir geboren, von Geburt an sind wir unangepaßt; unterdrückt das Opium, ihr werdet den Drang zum Verbrechen, die Geschwülste des Körpers und der Seele, den Hang zur Verzweiflung, die angeborene Geistesschwachheit, die ererbte Lustseuche, die Brüchigkeit der Triebe nicht unterdrücken können, ihr werdet nicht verhindern können, daß es Seelen gibt, die dem Gift bestimmt sind, ganz gleich welchem, dem Gift des Morphiums, dem Gift der Lektüre, dem Gift der Absonderung, dem Gift des Onanierens, dem Gift der wiederholten Koitusse, dem Gift der eingewurzelten Schwachheit der Seele, dem Gift des Alkohols, dem Gift des Tabaks, dem Gift der Anti-Geselligkeit. Es gibt unheilbare und für den Rest der Gesellschaft verlorene Seelen. Nehmt ihnen ein Mittel zum Wahnsinn, sie werden zehntausend andere erfinden. Sie werden viel feinere, viel heftigere Mittel ersinnen, völlig wahnsinnige Mittel. Die Natur selbst ist im Grunde anti-sozial, nur durch eine Usurpation der Macht handelt die organisierte, soziale Masse gegen die natürliche Neigung der Menschheit.

Lassen wir die Verlorenen sich verlieren, wir können unsere Zeit besser verwenden, als eine unmögliche Regeneration zu versuchen, die überdies unnütz ist, widerlich und schädlich.

Solange es uns nicht gelungen ist, irgendeine der Ursachen der menschlichen Verzweiflung zu beseitigen, werden wir nicht das Recht haben, zu versuchen, die Mittel zu beseitigen, durch die der Mensch sich vom Dreck seiner Verzweiflung zu befreien trachtet.   - Antonin Artaud, nach: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Hg. Günter Metken. Stuttgart 1976

 

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