Vater der Erzählungen     Angelehnt - so scheint es - an eine lokale Legende erzählt er von einem alten Indio, genannt »Vater der Erzählungen«, einem blinden Greis, hochbetagt wie Methusalem und Analphabet, der ununterbrochen Geschichten erzählt aus Ländern und Zeiten, die ihm völlig unbekannt sind. Das Phänomen hat Expeditionen von Anthropologen und Parapsychologen auf den Plan gerufen: Man hat herausgefunden, daß viele Romane weltberühmter Autoren mehrere Jahre vor ihrem Erscheinen von der heiseren Stimme des »Vaters der Erzählungen« Wort für Wort deklamiert worden sind. Manche halten den greisen Indio für den Urquell allen Erzählstoffes, für jenes primordia-le Magma, aus dem sich die individuellen Gestalten und Äußerungen jedes Schriftstellers herleiten; andere halten ihn für einen Seher, der sich durch den Verzehr halluzinogener Pilze mit dem Innenleben der stärksten visionären Temperamente in Verbindung zu setzen und ihre Psi-Wellen aufzufangen vermag; wieder andere sehen irr ihm die Reinkarnation Homers, des Autors von Tausendundeiner Nacht, des Autors von Po-pol Vuh sowie der Autoren Alexandre Dumas und James Joyce; dem wird allerdings von einigen auch entgegengehalten, Homer bedürfe gar nicht der Metempsychose, da er niemals gestorben sei, vielmehr weitergelebt und weitergedichtet habe durch die Jahrtausende, als Autor nicht nur der beiden Dichtungen, die man ihm gemeinhin zuschreibt, sondern eines Großteils der bekanntesten epischen Werke aller Länder und Zeiten. Ermes Marana, mit einem Cassettenrecorder am Eingang der Höhle, in der sich der Alte versteckt... - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
 

Vater Erzählung

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