Vakuum, falsches   Ein Postdoktorand mit  nervösem Grinsen war dabei, das Universum neu zu erfinden, und zwar nicht aus subatomaren Teilchen oder Kräften, sondern aus dem Vakuum, in dem diese herum schwirrten. Kurz gesagt, aus dem Nichts selbst.

Das von Guth beschriebene Szenario begann kurz nach der Planck-Zeit. Das Universum, anfangs ein Feuerbail perfekter Energie oder das reine Chaos, dehnt sich jetzt aus und kühlt ab. Die Schwerkraft ist bereits eine separate Kraft, aber die starke, die schwache und die elektromagnetische Kraft sind immer noch in ihrer großen Einheit verbunden. Irgendwo in dem brodelnden Chaos, das die urtümliche Raumzeit gewesen sein könnte, sinkt die Temperatur unter 1026 Grad, und die Große Vereinheitlichte Symmetrie sollte nun eigentlich brechen. Statt dessen bleibt das Higgs-Feld in seinem Zustand stecken, und ein kleines Stückchen Raum, etwa von der Größe eines Protons, wird unterkühlt. Die Symmetrie hängt quasi in der Luft, wie drückendes Schweigen.

Innerhalb dieser kleinen Zone befindet sich das Äquivalent von etwa neun Kilogramm falschen Vakuums**, die latente Higgs-Energie*. Von dieser hyperexplosiven Kraft getrieben, beginnt sich die Zone zu verdoppeln wie eine wildgewordene Amöbe in einem Science-fiction-Film aus den fünfziger Jahren. Alle 1034 Sekunden wird die Blase doppelt so groß, die darin enthaltene Energie verachtfacht sich jeweils. Etwa zu dem Zeitpunkt, als die anfangs protonengroße Blase zur Größe einer Grapefruit angeschwollen ist, bricht die Symmetrie - es ist kaum ein Augenblick vergangen -, das Higgs-Feld gefriert, und es entstehen kleine Stellen »echten Vakuums« wie Blasen in kochendem Wasser. Die Phasenübergänge breiten sich, nachdem sie einmal entstanden sind, aus wie die Pest. Die Stellen echten Vakuums explodieren in dem aufgeblähten Universum und vereinigen sich. In ihrem Inneren bricht die Symmetrie, das falsche Vakuum verwandelt sich in ein echtes, und die Higgs-Energie*** kondensiert zu wirklicher Materie und Strahlung. Aus dieser Materie und dieser Energie werden eines Tages Wasserstoff und Helium entstehen, Galaxien, Blumen und Menschen.   

* Hawking wies darauf hin, daß die Inflationstheoretiker die Quantenmechanik außer acht gelassen hatten. Das Prinzip der Unschärfe, argumentierte er, bedeute, daß das Higgs-Feld nicht völlig gleichmäßig im Raum verteilt, sondern willkürlichen Quantenfluktuationen ausgesetzt sei. Wenn das Higgs-Feld am Ende der Inflationsphase zu Materie und Strahlung kondensierte, mußten die Fluktuationen zu kleinen Unregelmäßigkeiten in der Dichte der Materie und der Energie führen. Äonen später bildeten sich aus den Unregelmäßigkeiten Galaxien und Sternhaufen.

Das war vielleicht die zweithöchste Vollendung des Traumes von Fermiland: die Existenz ganzer Galaxien, dieser majestätischen Feuerräder aus hundert Milliarden Sonnen, dieser größten Einzelobjekte im Kosmos, zurückgeführt auf eine Quantenfluktuation in einem halbmetaphysischen [Higgs-]Kraftfeld, das kein Mensch je gesehen hatte, zu einer Zeit, als das Universum ein Billionstel eines Billionstels einer Billionstelsekunde alt war. Die höchste Vollendung hätte darin bestanden, das ganze Universum als eine Art Quanteneffekt zu beschreiben.

** Teilchenphysiker, darunter besonders Sydney Coleman, ein Kollege von Glashow in Harvard, hatten die Möglichkeit untersucht, daß es im Prozeß des Symmetriebruchs eine »Verzögerung« gegeben haben könnte, eine verspätete Reaktion auf die Abkühlung des Universums. Coleman hatte das Stadium, in dem das Universum noch in Symmetrie verharrte, das »falsche Vakuum« genannt.

***  Es gibt eine Analogie zwischen Wasser und dem Higgs-Feld. Wenn Wasser gefriert und seine Moleküle ihre rastlose Bewegung einstellen und kristalline Strukturen bilden, wird eine überraschend hohe Energiemenge in Form von Wärme abgegeben. Die Energie, die beim Gefrieren eines großen Schwimmbeckens frei wird, würde, werm man sie nutzen könnte, ein Hauus mehrere Jahre lang heizen. Wenn Wasser unterkühlt wird, bleibt die Kondensationswärme verborgen oder latent. Tye und Guth waren sich darüber im klaren, daß Energie frei geworden war, als das Higgs-Feld gefror und die Symmetrie brach, genau wie Energie frei wird, wenn ein Bleistift umfällt und auf dem Tisch aufschlägt oder wenn ein Ball einen Hügel hinunterrollt und dabei an Geschwindigkeit gewinnt. Unter normalen Umständen hätte diese Energie die Masse der Partikel erhöhen müssen, etwa die der Bosonen der schwachen Kraft, die zuvor masselos gewesen waren. Wenn jedoch das Universum einer Unterkühlung ausgesetzt war, durfte all diese Energie nicht frei werden, sondern mußte latent bleiben und eine Zeitlang den Raum durchfluten. Das unterkühlte Universum war ein energieschwangeres Universum.

- Dennis Overbye, Das Echo des Urknalls. München 1993

Vakuum Falsch

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