rsprungsmythos  Die Erzählung setzt zu einer Zeit ein, da die Erde noch nicht existierte. In der unteren Welt gab es nur Wasser. Auf einer Art Insel unter freiem Himmel nahmen übernatürliche Wesen in Menschengestalt die Lebensweise vorweg, die später zu der der Indianer werden sollte. In einem Dorf dort — einigen Versionen zufolge in einer Krise oder, wie Propp sagen würde, in einer »Mangelsituation« — hielt eine Familie zwei Kinder, manchmal Bruder und Schwester, in strenger Abgeschiedenheit. Das war bei Kindern hoher Abkunft so der Brauch. Dennoch statteten sie einander heimlich Besuche ab. Sei es nun aufgrund dieser Besuche oder aus Gründen mystischer Art — das Mädchen wurde schwanger und schenkte einer Tochter das Leben. Ungefähr zur gleichen Zeit starb (nach einigen Versionen) ihr Bruder oder (nach anderen) ihr Onkel mütterlicherseits, aber nicht ohne zuvor Weisung gegeben zu haben, daß sein Sarg in den Zweigen eines Baumes aufgebahrt werden sollte. Wenn der Verstorbene der Onkel mütterlicherseits ist, tritt der Erdbeben heißende Bruder in der Erzählung erst später auf.

Das Töchterchen wächst schnell heran, weint jedoch ohne Unterlaß. Um sie zu beruhigen, erlaubte man ihr lange Besuche bei dem im Baumwipfel aufgebahrten Leichnam. Der Leichnam sagte ihr die Zuhalten sollte. Und alles geschah, wie er es angekündigt hatte. Man sandte das junge Mädchen aus, um den Häuptling eines anderen Dorfes zu heiraten. Auf dem Wege mußte sie die Listen vereiteln, mittels deren er sie zu einem Fehltritt zu verleiten versuchte. Nachdem sie im Dorf angekommen war, nötigte sie der Häuptling, der jetzt ihr Mann geworden war, sich nackt auszuziehen und in einem gewaltigen Kessel eine Mais-Suppe zu kochen. Rasch war sie von Kopf bis Fuß mit glühendheißen Spritzern bedeckt. Noch immer auf Geheiß des Häuptlings leckten sie SChrekkenerregende Hunde mit so rauhen Zungen, daß ihr ganzer Körper in Blut gebadet war.

Man möchte glauben, jetzt sei die junge Nekrophile (sie hatte mit einem Toten Umgang gepflogen) über den Berg, nachdem sie diese sadistischen Mißhandlungen so tapfer ertragen hatte. Aber nein: Ihr Gatte war immer noch eifersüchtig auf sie. Er wurde krank, alle Behandlungsversuche schlugen fehl. Aus reiner Verzweiflung rief er die ganze Bevölkerung zusammen und flehte sie an, ihm einen Traum zu deuten, den er gehabt hatte; andernfalls würde er sterben.

Hierzu eine Zwischenbemerkung. In einem Buch, in dem ich zu zeigen versuche, daß Begriffe, die man der Psychoanalyse gutschreibt — oraler, analer Charakter usw. —, bereits dem mythischen Denken bekannt und vertraut sind, ist es nicht unangebracht, einen Augenblick lang bei der Art und Weise innezuhalten, wie die Irokesen und ihre Nachbarn sich die Träume vorstellten und damit eine ganze Reihe von Ideen vorwegnahmen, die bei uns auf einen Freud warten mußten, bevor sie zum Ausdruck gebracht wurden. Hören wir also, wie im Jahre 1649 Pater Ragueneau, Missionar bei den Huronen (die die Auffassungen der Irokesen in bezug auf dieses Problem teilten), die Theorie der Eingeborenen darstellte:

»Über diese Begierden hinaus, die wir gemeinschaftlich haben, die uns freistehen oder wenigstens willensbestimmt sind, die aus der vorgängigen Kenntnis irgendeiner Tauglichkeit erwachsen, die man in der begehrten Sache vermutet hat, glauben die Huronen, daß unsere Seelen noch andere, gleichsam natürliche und verborgene Begierden haben; diese, nehmen sie an, erwachsen aus dem Grunde der Seele, nicht auf dem Wege der Erkenntnis, sondern durch eine gewisse Verpflanzung der Seele in bestimmte Gegenstände [...].

Nun glauben sie aber, daß unsere Seele diese natürlichen Begierden durch die Träume als durch ihre Sprache zu erkennen gibt, so daß sie, wenn diese Begierden verwirklicht sind, zufriedengestellt ist; umgekehrt aber, wenn man ihr nicht vergönnt, was sie begehrt, empört sie sich, nicht nur indem sie dem Körper das Wohlergehen und das Glück verweigert, das sie ihm verschaffen wollte, sondern häufig sogar dadurch, daß sie sich gegen ihn auflehnt und ihm verschiedene Krankheiten und sogar den Tod zufügt.«

»Als Folge dieser irrigen Auffassungen sind die Huronen in der Mehrzahl sehr darauf bedacht, ihre Träume festzuhalten und ihrer Seele zu bieten, was sie ihnen in der Zeit ihres Schlafes vor Augen geführt hat. Wenn sie im Traum beispielsweise ein Schwert gesehen haben, versuchen sie es zu bekommen; wenn sie geträumt haben, daß sie ein Fest feierten, richten sie beim Erwachen eines aus, wenn es etwas zu feiern gibt; und so mit anderen Dingen. Und das nennen sie Ondinnonk, eine geheime, durch den Traum kundgegebene Begierde der Seele

»Gleichwohl, und wenn wir unsere Gedanken und Neigungen auch nicht immer durch die Sprache dartun: ebenso wie diejenigen, die mit übernatürlichem Blick in die Tiefen unserer Herzen zu sehen vermögen, sich diese Einsicht und Kenntnis nicht anmerken lassen würden, so glauben die Huronen, daß es bestimmte Personen gibt, die erleuchteter sind als das gemeine Volk und ihren Blick sozusagen bis auf den Grund der Seele richten und diese natürlichen und geheimen Begierden, die sie hat, erkennen, obgleich die Seele nichts davon durch Träume kundgegeben hat oder derjenige, der diese Träume gehabt hat, sie vollständig vergessen hatte.«

Man sieht, daß es auch den Indianern nicht an Psychoanalytikern fehlte! - (str)

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