Vielfach ist es am Neujahrstag Usus, daß die älteste Frau
in der Familie mittels einer kleinen Bürste die Tiere im Haushalt
mit Urin besprengt und dann nacheinander
die einzelnen Angehörigen der Familie,
während sie dem Bett entsteigen.
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(wesch)
Urin (2) Und dann kommt man zum Salpeter.
Ein Verwesungsprodukt aus organischem Leben, das sich fortgesetzt
und überall bildet, aber auch leicht im Wasser aufgelöst und
verschleppt, verteilt, verbraucht wird. Nur in sehr trocknen
Gegenden findet man Salpetersäure in größeren Lagern. Aus dem
früheren Leben von Seevögeln gibt es eine Fläche von 90 km Länge
und 3 km Breite in Chile, die Salpeter in einer Schicht von einem
Meter Dicke enthält. Der Bestand wird ziemlich bald verbraucht
sein und viele gleiche große Lager gibt es gewiß nicht mehr auf
der Erde. Das sind die Dinge, die auch jedes Buch sagt. Und nun
gibt es, wenn man Salpeter, Kohle und Schwefel mischt und durch
Zündung zum Brennen bringt, eben eine Explosion. Was aber kann
das bedeuten, wenn man es in etwas größere Nähe der menschlichen
Erfahrung bringen möchte? Was kann es sein, was man erreicht,
wenn verschweltes Holz, verfaulter Harn und Schwefel zusammen
kommen, was alsdann so gewaltige Expansionen
ergibt? Das sind Fragen, die niemals gründlich zu Ende gedacht
werden, und doch würden dahinter Tatsachen stecken, die man viel
eher den Kindern in der Schule sagen sollte, als die formelhaften
Theorien der Chemie. Am leichtesten ist vielleicht die Natur
des Salpeters zu verstehen, und sie ist vielleicht ein ganz bewegter
Roman. Da sagt man, es ist der Harn und es sind vielleicht auch
Exkremente der Tiere, aber was sind diese Dinge? Sie sind doch
nicht nur so wenig, daß man mit dem Wort Harn nun alles erledigt
hat? Das Tier, von dem dieser Harn kommt, kann ein Seevogel ebenso
gut sein, wie eine Kuh im Stall. Man hat früher, bevor man die
großen Salpeterlager der Erde kannte, den Ham aus den Viehställen
über lockren Kalkstein rinnen lassen, so im Kanton Appenzell,
und dann hatte man ein Caiciumnitrat, das ebenso wie Salpeter
weiter zu verwenden war. Diese Tiere haben gefressen. Die Stalltiere
hatten Gras und Heu, also Pflanzen gefressen, - die Seevögel
aber hatten Fische gefressen, und diese Fische wieder lebten
von den Pflanzen der Meere. Sprechen wir also nicht von Wasserstoff
und Sauerstoff oder Stickstoff, die alle im Salpeter enthalten
sind, sondern sagen wir, daß die Pflanzen durch einen Magen oder
durch zwei Mägen hindurchgegangen waren, - und wie kann das wieder
unwichtig sein, da die Kuh ihr Futter zweimal in den Magen nimmt,
zwischen Fisch und Raubvogel aber gleichfalls zwei Mägen nacheinander
eingeschaltet sind. - Damit war die Pflanzenseele keineswegs
erloschen, denn der Tierkörper hatte sie wohl des Kohlenstoffes
beraubt, durch den sich die Pflanze in ihrem Aufbau darstellen
kann, aber wir sehen ja nachher, daß auch die Kohle zur Explosion
erforderlich ist.
- Ernst Fuhrmann, Der Geächtete. Berlin 1983
(zuerst 1930)
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