Unversehrtheit  Ob sie mir ihren Bauch zeigen dürfe, fragte sie; vorsichtig schob sie die Bettdecke zur Seite und streifte das Hemd nach oben. Ihr Unterleib war kreuz und quer von bläulich-roten, noch kaum verheilten Narben bedeckt. Neben dem erschreckend schmalen Körper befand sich der Plastikbeutel, der, tropfenweise, ihren Urin auffing. Später, im Bus auf der Fahrt zu meiner Mutter, dachte ich daran, daß ich, für wenige Augenblicke, kaum noch bedeckt von dem weißen Nachthemd, ihre Brüste gesehen hatte, die allein noch gänzlich unversehrt waren. Marie schien sehr wohl bemerkt zu haben, daß ich viel weniger ihre Wunden als diese Brüste angestarrt hatte, diese noch glatten und weichen Halbkugeln, entblößt bis zur Hälfte der bräunlichen Brustwarzen ... diese Brüste waren noch immer fest und von vollkommener Schönheit. Lächelnd, mit wachen Augen, hatte sie meinen Blick erkannt; es war Ironie in ihren Augen gewesen, als sie das Nachthemd wieder herabstreifte: ich kannte diese Ironie; sie war stets in ihrem Blick gewesen, wenn ich mich von ihr verabschiedete, wenn ich spät abends aus ihrer Tür ging, die sie leise hinter mir verschloß.

Warum hatte ich meinem Impuls nicht nachgegeben und meine Hände auf ihre Brüste gelegt?  - Wolfgang Hilbig, Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen. Frankfurt am Main 2003

 

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