Unübersichtlichkeit (2) Die
Witwe gab allerlei Familien-Anekdoten zum besten. Das ist ihre Stärke. Ihre
Sippe ist aber auch wirklich komisch, da völlig unübersichtlich: Der Schwiegerpapa
war dreimal verheiratet, in großen Abständen; hat zwei seiner Frauen überlebt.
Aus allen Ehen laufen nun Kinder und Kindeskinder herum; Tanten, die jünger
sind als ihre Nichten; Onkel, die mit ihren Neffen in die gleiche Schulklasse
gehen. Obendrein, so gesteht die Witwe, hat sich die letzte, überlebende Gattin
anschließend in zweiter Ehe mit einem Juden vermählt. Dieser jüdische Stief-Schwiegervater
starb zwar bereits lange vor Beginn des Dritten Reiches; doch blieb er ein Fleck
in der Familiengeschichte. Heute hingegen erzählt die Witwe geradezu mit Behagen
von ihm und rühmt sich seiner. - Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen
vom 20. April bis 22. Juni 1945. Berlin 2005 (zuerst 1954)
Unübersichtlichkeit (3) und
dann gab es in P eine Frau namens h. die hatte zwei Töchter und einen Sohn,
die erste Tochter hatte einen Sohn und eine Tochter, die zweite Tochter hatte
einen Sohn und drei Töchter, der Sohn hatte einen Sohn und zwei Töchter, lange
Jahre nachdem ihr Mann gestorben war, einige Jahre weniger, nachdem auch ihr
Sohn gestorben war, hatte sich Frau p in eine winzige, kleine, schwarzgekleidete,
fröhliche Frau verwandelt, die ihre zahlreiche Verwandtschaft zu verwechseln
begann, so hielt sie den Sohn des Sohnes ihres Sohnes für den Sohn ihres Sohnes
und den Sohn ihres Sohnes für ihren Sohn, iss datt dein Mann? fragte sie in
freundlichstem kölnisch ihre, wie gesagt verwitwete, Schwiegertochter unter
Hinweis auf den Sohn ihres Sohnes, oder: iss datt dein Kind? und erwies dem
Sohn des Sohnes ihres Sohnes große Freundlichkeit, im Laufe der Jahre überwand
sie diese Schwierigkeit ohne eigenes Zutun, so daß sie später eigentlich nur
noch fehlerfrei singen konnte: ach ich hab sie ja nur auf die Schulter geküßt,
während sie ihre Konversation auf die unermüdliche Repetition der Reste einiger
Gespräche, die sie vor fünfzig oder sechzig Jahren anläßlich einer beliebigen
Kaffeetafel gehabt hatte, reduzierte. - Peter O. Chotjewitz, Hommage à Frantek. Nachrichten
für seine Freunde. Reinbek bei Hamburg 1965
Unübersichtlichkeit (4)
- N. N.
Unübersichtlichkeit (6) Zu den Erzählungen des Försters gehörte auch die Geschichte des R-Flüchtlings
in ihrer Brigade, ein Mann schon Überdievierzig, seit Vielenjahren wortkarg
u in=sich gekehrt. Einst hatte er mit seinem Freund über Die-Berliner-Mauer
in Pankow aus der DeDeR zu fliehen versucht. In dieser Gegend schlug Die-Mauer
etliche Winkel, Ecken & Nischen, Häuser von der Ostseite rückten hier bisweilen
sehr nahe an Die-Grenze heran, deren Verlauf war unübersichtlich. Das wollten
die beiden sich zunutze machen & auch, daß gerade die britische Premierministerin
Thatcher zu Besuch in Westberlin weilte; für diese Kurzezeit (so raunte man
im-Osten) sei für DeDeR-Grenzsoldaten Der Schießbefehl aufgehoben worden.
Also wagten in einer dieser Nächte die beiden jungen Männer in der Pankower
Gegend an Die-Mauer sich heran —, überwanden die Vorsperranlagen, - IKeinalarm:
IWeiter -, überkletterten ein Mauerstück, - !Hinüber: und noch immer IKeinalarm:
Weiter - noch 1 Stück, dann - :Sie schafften auch dieses zweite Mauerstück,
wähnten sich nun Im-Westen u freuten sich laut —:-Hundegebell, Taschenlampen,
Rufe & eilige Stiefel : N-V-A=Grenzposten..... kamen auf die beiden zu.
—Wie gesagt, schloß der Förster, -der Verlauf Der-Mauer war in dieser Gegend
unübersichtlich. Die beiden waren bereits nach der ersten Kletterpartie !tatsächlich
Im-Westen angekommen, aber sie konnten Das nicht glauben. Also kletterten sie
noch 1 Mal über Die-Mauer und damit wieder zurück in den-Osten. - (jir)
|
||
|
||