nterweltsthron
Er hatte früher sogar einen Sessel hier unten
gehabt, doch eines Tages war ihm dieser verschwunden. Es war ein roter Polstersessel
gewesen, an vielen Stellen schon speckig glänzend, aber bequem und breit, als
wäre er für zwei Leute gebaut worden: er war das einzige Stück eigenen Mobiliars
und stammte aus einer Kleinwohnung im Stadtrandgebiet, die er wirklich bewohnt
hatte, manchmal sogar ausschließlich bewohnt hatte oder noch bewohnte ... es
war eine unklare Geschichte mit seinen Behausungen: manchmal hatte er mehrere
Adressen gehabt, die meisten aber nur auf dem Papier. Den Sessel hatte er in
der S-Bahn in Richtung Stadtmitte transportiert, im Spätfrühling, als in Berlin
schon Urlaubsvorbereitungen in Gang kamen, und es hatte in der übervollen Bahn
fast einen Aufstand gegeben. Zum Einschlafen am Nachmittag war der Sessel wie
geschaffen, doch dann hatte er ihn im Keller aufbewahrt, weil er ihm in der
Wohnung - in der Hauptwohnung - zu einem Unsicherheitsfaktor geworden war. -
Und der Sessel hatte ihm dann zum Ruhesitz vor der kühlen Betonmauer gedient,
wenn er sich aus der Sommerhitze schon frühzeitig hinabflüchtete und in dem
trüben Licht die Stille auf sich wirken ließ. Er pflegte sich dann förmlich
auszubreiten, hielt die Arme auf den dicken Seitenstützen von sich gestreckt,
hatte die Füße auf eine Gemüsekiste gelegt; sein Rücken paßte wie angegossen
in die halbrund ausgeformte Lehne, die oben einen schwärzlich verfärbten Eindruck
von seinem Hinterkopf aufwies ... und von dem Hinterkopf, der vor ihm dagelegen
hatte ... dieser Schmutzstreifen war die Marke, an der Hinterkopfgedanken stattfanden,
über dem aufrechten und völlig entspannten Genick, das sich gefahrlos lagerte...
so saß er auf einem Thron, die Kellerluft durchfloß ihn und schien ihn zu stärken,
als säße er direkt an der Quelle des Sauerstoffs. Und so machte er sich Gedanken
über den Sauerstoff ... es schien ihm, er atme, was in ihm war, und was aus
ihm hinaus strömte, das nahm er wieder auf, und so war er eins mit der Atmosphäre,
die ihn umgab ... er schlief ein und wachte wieder auf, und wachte, um wieder
einzuschlafen, hier unten, wo die Zeit stagnierte und wie mit einem Summen um
ihn kreiste, und es war, als entatme er aus seinen Lungen auch die Zeit. Eine
Zeitlang war er der Patriarch der Unterwelt hier unten, der Alleinherrscher
über ein unbekanntes halbdunkles Reich, unangefochten ruhte er, und alle Gedanken
waren so ferne, ermüdende Gründe für das Leben oberhalb, daß er sie, kaum daß
sie ihn berührten, leicht wieder fallenlassen konnte. - Dies dauerte an, bis
eines Tages der Riesenphallus an der Betonwand aufgetaucht war ... oder war
es das Auftauchen des Signums »C« unter der Riesenskizze, die Zeiten waren wirr!
Kurz darauf wurde ihm der Sessel mit Messern aufgeschlitzt und dann gestohlen;
er mußte mit der Gemüsekiste vorliebnehmen: hatte er sich eigentlich erst von
diesem Tag an hier unten überwacht und bedroht gefühlt... im Rückblick mußte
er es verneinen. - Es war wie der Einbruch der Realität in einen erfundenen
Zustand ... - (ich)
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