Unterwelt, ägyptische    Si-Osire nahm seinen Vater an der Hand und führte ihn an einen Ort in der westlichen Wüste von Memphis, den dieser nicht kannte.

Dort fanden sie ein Gebäude mit sieben großen Hallen voll von Menschen. Sie traten in die erste Halle ein und fanden ... Sie traten in die zweite Halle ein und sahen... Sie traten In die dritte Halle ein und sahen ...

Sie traten in die vierte Halle ein, und da sah Setom Leute Seile drehen, während Esel diese hinter ihnen wegfraßen. Dann gab es andere, deren Nahrung, Wasser und Brot, über ihnen aufgehängt war. Jedesmal wenn sie danach sprangen, um sie herunterzuziehen, schaufelten andere Leute Gruben unter ihren Füßen aus, um sie am Zugriff zu hindern.

Sie traten in die fünfte Halle ein, und da sah Setom die erhabenen Verklärten der Reihe nach stehen. Die aber, die wegen irgendwelcher Freveltaten angeklagt waren, standen an der Tür und flehten. Bei einem Manne, der flehte und lautes Wehgeschrei ausstieß, war der Angelzapfen des Tores der fünften Halle in das rechte Auge eingelassen.

Sie traten m die sechste Halle ein, und da sah Setom die Götter des Gerichts für die Bewohner des Totenreiches, die dort der Reihe nach standen, und sah die Diener des Toten-reiches dastehen und die Anklagen vortragen.

Sie traten in die siebente Halle ein, und da sah Setom die Gestalt des Osiris, des großen Gottes, wie er auf seinem Thron aus lauterem Golde saß, geschmückt mit der Atef-Krone; Anubis, der große Gott, zu seiner Linken, der große Gott Thoth zu seiner Rechten. Die Götter des Gerichtes für die Bewohner des Totenreiches standen ihm links und rechts zur Seite. Die Waage war in der Mitte von ihnen aufgestellt, und man wog die bösen Taten gegen die guten ab. Thoth, der große Gott, führte Buch, und Anubis machte seinem Genossen Angaben.

Wenn bei einem die bösen Taten zahlreicher befunden werden als seine guten, so wird er der »Fresserin« des Herrn des Totenreichs überantwortet. Seine Seele wird samt seinem Körper vernichtet, und er darf niemals wieder atmen.

Wenn aber bei einem die guten Taten zahlreicher befunden werden als seine bösen, so wird er unter die Richtergötter des Herrn des Totenreiches versetzt, und seine Seele geht zusammen mit den erhabenen Verklärten zum Himmel.

Wenn bei einem die guten Taten den bösen das Gleichgewicht halten, so wird er unter die seligen Geister versetzt, die dem Gotte Sokaris-Osiris dienen.

Da sah Setom einen Vornehmen, der in ein Gewand von Königsleinen gekleidet war, nahe dem Orte, wo Osiris war. Der Rang, den er einnahm, war sehr hoch. Setom verwunderte sich sehr über das, was er im Totenreich sah.

Si-Osire ging nun vor ihm hinaus und sagte zu Ihm: »Mein Vater Setom, hast du nicht diesen Vornehmen gesehen, der, in ein Gewand von Königsleinen gekleidet, sich nahe dem Orte aufhält, wo Osiris ist? Dies ist der Arme, den du gesehen, als man ihn ohne Geleit und nur in eine Matte eingeschlagen aus Memphis hinaustrug. Er wurde in die Unterwelt gebracht. Dann wurden seine bösen Taten abgewogen gegen seine guten, die er auf der Erde begangen hatte, und man fand seine guten Taten zahlreicher als seine bösen im Verhältnis zu seiner Lebenszeit, die Thoth ihm schriftlich zugewiesen hatte bei seiner Geburt, und im Verhältnis zu seinem Glück auf Erden. So wurde vor Osiris der Befehl erteilt, daß die Grabausstattung jenes Reichen, den du gesehen hast, als er aus Memphis unter viel Totenklage herausgetragen wurde, eben diesem Armen gegeben werden solle, und daß er unter die erhabenen Verklärten versetzt werde als ein Mann Gottes, der dem Sokarls-Oslris dient, nahe dem Ort des Osiris.

Jener Reiche aber, den du gesehen hast, wurde auch In die Unterwelt gebracht, und seine bösen Taten wurden gegen seine guten abgewogen. Man fand seine bösen Taten zahlreicher als seine guten, die er auf Erden begangen hatte. So wurde befohlen, ihn fortzuschaffen, um ihn im Totenreich zu bestrafen. Er ist derselbe, von dem du gesehen hast, daß der Angelzapfen vom Tore des Totenreiches in sein rechtes Auge eingelassen war und sich auf seinem Auge auf- und zudrehte, während sein Mund in lautem Wehgeschrei offen stand.  - Altägyptische Märchen. Hg. E. Brunner-Traut. Düsseldorf Köln 1965 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

 

Unterwelt Ägypter

 

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