Untergrund, kirchlicher  An einem Sonnabend, da die beiden Freunde nach vier Stunden Unterricht schulfrei hatten, zwei Stunden vor Abfahrt der Werderkleinbahn, machten sie jene Entdeckung, von der hier nicht nur erzählt wird, weil mittelalterliche Kriechgänge gut zu beschreiben sind, sondern weil die Entdeckung dem Sextaner Eduard Amse! betrachtenswert war und dem Sextaner Walter Matern Anlaß zum Schauspielern und Zähneknirschen gab. Zudem kann sich Brauxel, der einem Bergwerk vorsteht, unter Tage besonders gewählt ausdrücken.

Der Knirscher - Amsel hat den Namen erfunden, Mitschüler sprechen ihn nach - der Knirscher also geht voran. Links hält er die Stabtaschenlampe, während er rechts einen Knüppel führt, der die Kanalratten aufscheuchen und gegebenenfalls erschlagen soll. Es gibt nicht viele Ratten. Das Mauerwerk faßt sich rauh bröselig trocken an. Die Luft kühl aber nicht grabeskalt, eher zugig, wenn auch nicht deutlich wird, woher es zieht. Kein Schrittecho wie in den städtischen Kanälen. Gleich dem Kriechgang und Zubringer hat der mannshohe Gang starkes Gefälle. Walter Matern trägt seine eigenen Schuhe, denn Amsels Lackspangenschuhe hatten in den Kriechgängen genug gelitten: jetzt läuft er in getragenen Schuhen. Von daher die Zugluft und gute Wetterführung: aus dem Loch heraus! Beinahe wären sie vorbei, wenn Amsel nicht. Links von ihnen. Durch die Lücke, sieben Ziegel hoch, fünf Ziegel breit, schiebt Amsel den Knirscher. Schwieriger ist es mit Amsel. Die Stabtaschenlampe quer zwischen den Zähnen, zerrt er Amsel durch das Loch und hilft, Amsels beinahe neue Schulkleidung in übliche Schulklamotten zu verwandeln. Beide stehen und schnaufen kurz. Sie befinden sich auf der geräumigen Sohle eines runden Schachtes. Sogleich zieht es ihnen die Blicke nach oben, denn von oben sickert verwaschenes Licht: das durchbrochene, kunstvoll geschmiedete Gitter über dem Schacht ist im Steinfußboden der Trinitatiskirche eingelassen; das werden sie später nachprüfen. Mit dem dünner werdenden Licht klettern vier Augen wieder den Schacht hinunter, und unten, die Stabtaschenlampe zeigt es ihnen, liegt vor vier Schuhspitzen das Skelett.

Gekrümmt liegt es, unvollständig, mit vertauschten oder ineinander geschobenen Details. Das rechte Schulterblatt hat vier Rippen eingedrückt. Das Brustbein mit dem Fortsatz spießt die rechten Rippen. Links fehlt das Schlüsselbein. Die Wirbelsäule knickt überm ersten Lendenwirbel. Arme und Beine fast vollständig zwanglos versammelt: ein gestürzter Mensch.

Der Knirscher steht starr und läßt sich die Stabtaschenlampe abnehmen. Amsel beginnt das Skelett auszuleuchten. Licht- und Schatteneffekte ergeben sich, ohne daß Amsel es darauf anlegt. Mit der Spitze eines Lackspangenschuhes - den Lack kann sich Brauxel bald sparen -zieht er durch den mehligen nur oberflächlich verkrusteten Dreck der : Schachtsohle eine um alle gestürzten Glieder laufende Spur, nimmt Ab- ! stand, läßt den Lichtkegel der Stabtaschenlampe der Spur nachlaufen, verkneift, wie immer, wenn er etwas Modellhaftes sieht, die Augen, hält den Kopf schräg, läßt die Zunge spielen, verdeckt ein Auge, dreht sich auf der Stelle, blickt über die Schulter hinter sich, zaubert ein Ta- i schenspiegelchen von irgendwoher, jongliert mit Licht, Skelett und Spiegelbild, läßt die Taschenlampe unter gewinkeltem Arm. hinter sich Licht machen, verkantet das Spiegelchen leicht, geht, um den Radius zu vergrößern, auf die Zehenspitzen, schnell und vergleichsweise in die Knie, steht ohne Spiegelchen wieder frontal, korrigiert die Spur hier und dort, übertreibt mit zeichnendem Spangenschuh die Gestik des Gestürzten, nimmt sie mit spurenlöschendem und neuzeichnendem Schuh wieder zurück, harmonisiert, steigert, besänftigt, will Statik Movens Ekstase, ist insgesamt darauf aus, eine Skizze nach dem Skelett zu entwerfen, im Gedächtnis zu bewahren und daheim im Diarium zu verewigen. Kein Wunder, daß Amsel, nachdem alle Vorstudien beendet sind, den Wunsch hat, jenen Schädel, der dem Skelett zwischen den unvollständigen Schlüsselbeinen steckt, aufzuheben und sachlich in seinen Schultornister, zu Büchern und Heften, zum brüchigen Schuh der Hedwig Lau zu stecken. An die Weichsel will er den Schädel tragen und einer seiner noch gerüsthaften Scheuchen, womöglich aber der soeben im Staub entworfenen Scheuche draufsetzen. Schon ist seine Hand mit den fünf dicken, drollig gespreizten Fingern über den Schlüsselbeinresten, will in die Augenhöhlen greifen und den Schädel auf sichere Art lüpfen, da beginnt der Knirscher, der sich lange starr und kaum anwesend gegeben hat, mit mehreren Zähnen zu knirschen. Er tut es wie immer: von links nach rechts. Aber die Akustik des Schachtes höht und verbreitet das Geräusch dergestalt vorwarnend, daß Amsel mitten im Greifen einhält, über runden Rücken hinter sich blickt und die Stabtaschenlampe auf seinen Freund richtet.  - (hundej)

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