ntergrund
Jetzt brauche ich auf meinem Weg zum Briefkasten nur einmal zu stolpern,
und schon ist alles wieder da. Ich muß nur einmal auf dem unebenen Pflaster
mit den Füßen hängenbleiben, und gleich fühle ich mich zurückgeworfen in diese
Zeit, die aus Wintern bestand, die kein Ende nehmen wollten. Aus schwarzen Wintern,
die andere schwarze und längst verweste Winter bedeckten. Und ich frage mich
immer wieder, was ich mich damals kein einziges Mal gefragt habe: Was es ist,
was da unter uns liegt. Vergangene Sippen liegen da unter uns. Längst vergessene
Sippen liegen dort unten, nach denen niemand mehr fragt, längst zu Kohle vergorene,schwar-ze
verklumpte Sippen, die sich des Nachts aufbäumen gegen das Leben, das über ihnen
noch lebt. Die sich aufbäumen wie vergorene Erinnerungen, wie endlose Sippschaften
von Erinnerungen, von denen keiner mehr weiß. Und
ich bin wieder das ungezählte Glied aus einer Sippe, die den Beinamen Choléra
trug, und die in der Frühe, zu unmenschlicher Zeit, hinausfuhr in den Frost
und in die Finsternis, die über der Kohle lagen und über der Asche. Asche lag
über der Kohle, und Kohle lag über der Asche. Und meine Vergangenheit liegt
dort unten, dachte ich, dort unten unter der Kohle und unter der Asche.
-
Wolfgang Hilbig, Die Erinnerungen. In: W.H., Der Schlaf der Gerechten.
Frankfurt am Main 2003
Untergrund (2) In dem neuen altbekannten Gang, der sich vor mir eröffnete, sah ich große Flächen von Brackwasser am Boden stehen, das in der schwächer werdenden Beleuchtung trübe und farbig schillerte wie Benzin oder Öl. Manchmal war es, als ob durch die tiefen Lachen Schlangenlinien huschten, auf mich zu, wie die unheimlichen Spuren von Getier, das vor dem Licht floh, das ich angezündet hatte. Und der Dunst, der von den nassen Böden aufstieg, verwob sich düster mit meinen Sinnen und verschleierte mir den Ausblick nach vorn. Ich erkannte, daß eine Reihe von Ziegelsteinen im Schrittabstand durch die Pfützen gelegt war... ich hatte es selbst getan, um über das Wasser hinwegzukommen; die Steine hatten sich fast widerstandslos dem Gemäuer entnehmen lassen, die Wände waren zermürbt, und nur das Eigengewicht schien sie noch aufrecht zu halten. Ab und zu war Schutt in den Gang gerutscht, als ob hier, vor nicht allzu langer Zeit, Erschütterungen stattgefunden hätten, Erdumwälzungen, Aufbrüche wie von größeren Baumaßnahmen ... und hinter den zerbrochenen Wänden sickerte es hervor wie Urin, mit faden Gerüchen, milchig und quecksilbern aus dem fetten Hintergrund der Gewölbewand, und immer mehr Steine lockerten sich in der durchdringenden Jauche: es konnte nicht mehr lange dauern, bis mir dieser Weg versperrt war.
Aber natürlich schützten mich die Trümmer auch ... war ich an ihnen vorüber,
hatte ich eine Strecke völligen Dunkels vor mir, ehe ich wieder, nach einem
scharfen Knick im Gang, auf einen Lichtschalter stieß: mir mit der in der sauerstoffarmen
Luft nur dünn brennenden Feuerzeugflamme helfend, tastete ich mich weiter und
glaubte links und rechts neben mir das Tropfen und Ticken der Exkremente zu
vernehmen. .. dennoch ließ das Rinnen von den Wänden nach, die scharfen Gerüche
schienen sich zu neutralisieren, und eine merkwürdig gereinigte Luft gewann
die Oberhand, - offenbar wohnten nicht mehr viele Leute über mir, offenbar standen
die meisten der Häuser in den Straßen über mir leer. Ich hielt an und lauschte:
es war eine Stille dort oben ... ich hörte auch sonst nichts in den Kellern,
aber diese Art von Stille wirkte wie ausgestorben. Nur selten war das Rauschen
von Flüssigkeit in den defekten Fallröhren zu hören, und wenn die süßlichen
Dünste der Durchfälle zu mir herandrangen, merkte ich auf und deutete mit dem
Zeigefinger in die Höhe: Was für ein Zeug trinkt er da oben?
-
(ich)
|
||
|
||