nruhe  Es ist seltsam zu sehen, wie fieberhaft die Amerikaner nach Wohlstand streben und wie sie immer von einer unbestimmten Furcht geplagt erscheinen, sie hätten nicht den kürzesten Weg dahin gewählt.

Der Bewohner der Vereinigten Staaten hängt an den Gütern dieser Welt, als sei er gewiß, nicht sterben zu müssen, und er hat es so eilig, die ihm greifbaren 2u fassen, daß man meinen könnte, er befürchte jeden Augenblick zu sterben, ehe er sich ihrer erfreut habe. Er faßt nach allen, doch ohne sie zu umklammern, und er läßt sie bald fahren, um nach neuen Genüssen zu jagen.

Ein Mensch baut in den Vereinigten Staaten sehr sorgfältig ein Wohnhaus, um seine alten Tage darin zu verbringen, und er verkauft es, während man den Giebel des Hauses aufsetzt; er legt einen Garten an, und wenn er dessen Früchte kosten könnte, verpachtet er ihn; er macht ein Feld urbar und überläßt es andern, die Ernten einzuheimsen. Er ergreift einen Beruf und gibt ihn auf. Er läßt sich an einem Orte nieder und fährt bald danach weg, um mit seinen gewandelten Wünschen anderswohin zu ziehen. Wenn seine Privatgeschäfte ihm etwas Ruhe lassen, so stürzt er sich alsbald in die Wirbel der Politik. Und bleibt ihm am Abschluß eines mit Arbeit ausgefüllten Jahres noch etwas Muße, so führt er seine unruhige Neugier innerhalb der weiten Grenzen der Vereinigten Staaten dahin und dorthin spazieren. So wird er in wenig Tagen fünfhundert Meilen zurücklegen, nur um sich besser von seinem Glück abzulenken.

Endlich kommt der Tod und gebietet ihm Halt, bevor er dieses nutzlosen Jagens nach einer ständig fliehenden Glückseligkeit müde geworden ist.   - Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. München 1976 (dtv 6063, zuerst 1835/1840)

Unruhe (2) Olga Iwanownas Sohn, ein Knabe von acht Jahren, schlank, gepflegt und wie auf einem Gemälde in Sammetjacke und lange schwarze Strümpfe gekleidet, lag im gleichen Salon auf dem Diwan. Er lag auf einem Atlaskissen und streckte, offenbar einen Artisten nachahmend, den er unlängst im Zirkus gesehen, bald ein Bein in die Höhe, bald das andere. Wenn seine hübschen Füßchen müde wurden, setzte er seine Beschäftigung mit den Armen fort oder sprang unvermittelt auf und ließ sich auf alle viere nieder und versuchte, auf den Händen zu gehen. All das tat er mit dem allerernstesten Antlitz und schnaufte dabei wie ein Märtyrer, wie wenn er selber nicht froh darüber wäre, daß Gott ihm einen so ruhelosen Körper verliehen.  - (tsch)

Unruhe (3)

Dieses dunklere Universum
unter der Haut,
in dem es nicht denkt,
nur pumpt, brodelt,
knetet, arbeitet,
während du schläfst:
Plutonische Unruhe,
Erd- und Seebeben,
große Chemie, Katastrophen
in dichter Packung.

Dein innerer Dschungel
ist altertümlich,
verästelt, fehlfarben,
feucht und heiß.
Die Ursuppe
setzt Parasiten an.
Ein bizarres Gewimmel
wuchert, mutiert
und stirbt wieder aus.

Ganze Erdzeitalter
im Zeitraffer,
und du weißt nichts davon.

 - Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1995)

Unruhe (4)

Unglückstrift

Wolken durch den Wind getrieben
Hinvergehen, hinverstieben:
Durch den Wind erregte Wellen
Sich darauf zur Ruhe stellen.

Nur der Mensch bei Leibes Leben
Muß in steter Unruh schweben:
Ist ein Unglück abgewichen
Stets ein anders kommt geschlichen.

Sonne gehet auf und nieder,
Frost auf Hitze findt sich wieder;
Stets die Nacht der Tag erreichet,
Dürres Land ein Regen weichet.

Unser Unglück kommt stets wieder,
Größers treibt das große nieder,
Ist ein arges abgewichen,
Ärgers kommt herangestrichen.

Stetes Plagen, stetes Denken,
Stetes Trauren, stetes Kränken,
Stetes Wollen, nimmer Haben
Triftweis kommet angetraben.

Unser Streben, unser Mühen,
Unser Hin- und Widerziehen,
Unser Wünschen, unser Wagen,
Muß, wie oft, den Bloßen schlagen.

Unser Leben muß sich walzen,
Alle Lust wird uns versalzen,
Eine Stunde haben Freude
Wuchert ganze Jahr voll Leide.

- Justus Georg Schottel

Unruhe (5)  Höre Geist! ich frage dich in Jesu Namen:

1. Wer du seyst ?

Antw. Ich bin von hier, und habe das Geld mit fünf andern vergraben, diese fünf aber sind zur Ruhe gekommen, und ich noch nicht; im . . . bin ich gestorben.

2. Warum bist Du und machest auch mich so unruhig?

Antw. Warum ich so unruhig ? hab ich schon gesagt, daß es nähmlich das vergrabene Geld sey, welches mich beunruhige; ich kann auch nicht eher zur Ruhe kommen, bis du es holest. Ich beunruhige dich zwar, aber du kannst dir gleich helfen, gehe nur hinunter und hole das Geld.

3. Bist du ein guter Geist, und hast noch Hülfe vonnöthen, so wollte ich dir von Grund des Herzens gerne helfen, wenn es in meinem schwachen Vermögen und Kräften stünde; weil ich aber dieses nicht thun kann, so frage ich dich in Jesu Namen, ob ich dasjenige, so du an mich begehrst, nicht durch eine andere Person verrichten lassen könne ?

Antwort. Freylich bin ich ein guter Geist: und auf die Frage war die Antwort: Nein es kann mich sonst niemand als du erlösen. Ich habe schon 120 Jahre auf dich gewartet, und wenn du mir nicht hilfst, so muß ich wiederum 120 Jahr leiden, und in Unruhe seyn. Ich bitte dich, hilf mir! du kannst, wenn du hinunter gehst, zwar Leute mitnehmen, doch daß sie nicht so weit mitgehen, daß sie auf den Plaz sehen können, bis du vor das Geld hast, alsdann können sie dir es helfen heimtragen. Du kannsts nicht allein tragen, sie können ja einsweilen für dich beten; ich will selbst mit dir gehen, fürchte dich nur nicht, wenn dir gleich drunten allerhand Fürchterliches und Scheußliches vorkommt, ich will dir schon in Allem helfen.  - (still)

Unruhe (6)  Und so bin ich - ein belangloser, sensibler Mensch, fähig zu heftigen, verzehrenden Impulsen, bösen wie guten, edlen wie niedrigen, nie aber zu einem dauerhaften Gefühl, nie zu einer Emotion, die fortwirkte und in die Substanz der Seele einginge. Alles in mir neigt dazu, weiterzugehen und etwas anderes zu werden; es ist eine Ungeduld der Seele mit sich selbst wie mit einem lästigen Kind; eine wachsende, immer gleiche Unruhe. Alles fesselt mich und nichts hält mich. Ich achte auf alles und träume beständig; ich bemerke jedes noch so winzige Mienenspiel meines Gesprächspartners, nehme die kleinste Veränderung in seiner Stimme wahr, und während ich ihn höre, höre ich ihm nicht zu, sondern denke an etwas anderes, am allerwenigsten aber erinnere ich mich an das, was gesagt wurde, von mir und von ihm. So sage ich jemandem stets aufs neue, was ich ihm bereits mehrfach gesagt habe, oder stelle ihm eine Frage, die er mir bereits beantwortet hat; und doch kann ich mit vier photographischen Worten die Gesichtsmuskeln beschreiben, mit denen er mir sagte, woran ich mich nicht mehr erinnere, oder den Augenausdruck, mit dem er aufnahm, was ich mich nicht erinnern kann, ihm gesagt zu haben. Ich bin zwei, und beide halten Abstand — siamesische Zwillinge, die nicht miteinander verwachsen sind. - Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003

Ruhe
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Erdbeben
Verwandte Begriffe
Synonyme