nnatürlich
Es ist unnatürlich, daß ein Mann an einer Frau während der
neun Monate ihrer Schwangerschaft festhält. Wenn der Trieb befriedigt
ist, verlangt es den Mann nicht mehr nach der Frau und die Frau nicht mehr
nach dem Manne. Dieser kümmert sich nicht im geringsten um die Folgen seiner
Tat; er kann sie sich vielleicht nicht einmal vorstellen. Der eine geht
hierhin und der andere dorthin, und nach neun Monaten hat es den Anschein,
als wüßten sie nicht mehr, daß sie sich gekannt haben ... Warum sollte
er ihr nach der Niederkunft zur Seite stehen? Warum sollte er ihr ein Kind
aufziehen helfen, von dem er nicht einmal weiß, ob es seins ist? -
J.-J. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit
unter den Menschen. Nach: Voltaire, Philosophisches Wörterbuch. Frankfurt
am Main 1967 (Sammlung Insel 32, zuerst 1764)
Unnnatürlich (2) Kaum war sich der Finanzdirektor klar, daß sein Administrator ihm etwas vorlog, da kroch von den Füßen her die Angst an seinem Körper herauf, und noch zweimal hatte er das Gefühl, daß faulige, malariaträchtige Feuchtigkeit über den Fußboden zog. Er ließ keinen Blick von Warenucha, der seltsam krumm im Sessel kauerte, im bläulichen Schatten der Tischlampe zu bleiben trachtete und erstaunlicherweise eine Zeitung vors Gesicht hielt, da ihn das Lampenlicht vorgeblich störte. Rimski grübelte nur noch, was das Ganze zu bedeuten hatte. Warum log ihm der Administrator, der so spät noch einmal in das stille und verödete Theatergebäude gekommen war, so frech die Hucke voll? Das Bewußtsein einer Gefahr, einer unbekannten, doch drohenden Gefahr begann Rimskis Seele zu martern. Indem er sich den Anschein gab, als bemerke er weder Warenuchas Winkelzüge noch den Trick mit der Zeitung, betrachtete er dessen Gesicht und hörte kaum noch zu, was der ihm vorflunkerte. Das war etwas, was noch unerklärlicher schien als die wer weiß warum erdachten Verleumdungen über die Untaten in Puschkino, und dieses Etwas war eine Veränderung im Aussehen und im Gehaben des Administrators.
So tief sich Warenucha auch den langen Mützenschirm ins Gesicht gezogen hatte, um es zu beschatten, wie geschickt er auch mit der Zeitung hantierte, Rimski erspähte dennoch neben dessen Nase rechts ein riesiges Veilchen.
Überdies war der gewöhnlich vollblütige Administrator jetzt von einer ungesunden kreidigen Blässe, und um den Hals trug er trotz der schwülen Nacht einen alten gestreiften Schal. Nahm man dazu die während seiner Abwesenheit entstandene widerliche Art, zu schlürfen und zu schmatzen, die jähe Veränderung der Stimme, die nun dumpf und grob klang, und die diebischen und feigen Blicke, so konnte man getrost sagen, daß Iwan Saweljewitsch Warenucha nicht wiederzuerkennen sei.
Und noch etwas verursachte dem Finanzdirektor brennendes Unbehagen, aber
was es war, wußte er nicht, sosehr er auch sein entzündetes Gehirn anstrengte
und Warenucha anstarrte. Nur soviel erkannte er, daß der Anblick des Administrators
auf dem wohlbekannten Sessel etwas nie Gesehenes, Unnatürliches hatte. -
(
meist
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