nmoral »Nur wenige erraten, was in dieser Gemeinde vorgeht. Es gibt noch andere Vorfälle, über die ich lieber nicht zu eingehend sprechen will. Es war einmal eine neue Lehrerin hier, und die hatte ein neues Fahrrad. Sie war noch nicht lange hier, als Gilhaney mit ihrem Damenfahrrad hinaus aufs einsame Land fuhr. Geht Ihnen auf, welche Unmoral dahintersteckt?«
»Oh ja.«
»Es kam noch schlimmer. Wie immer Gilhaneys Fahrrad es angestellt haben mag - es lehnte irgendwo, wo die junge Lehrerin herauseilte, um ganz schnell mit ihrem Fahrrad irgendwohin zu fahren. Ihr Fahrrad war dann fort, aber da lehnte ja Gilhaneys Fahrrad in Reichweite und versuchte, klein und bequem und anziehend auszusehen. Muß ich Ihnen noch sagen, was das Resultat war, oder was passierte?«
Nein, das muß er nicht, sagte Joe drängend. So etwas Schamloses und Liederliches habe ich ja noch nie gehört. Die Lehrerin trifft natürlich keine Schuld; sie zog schließlich kein Vergnügen daraus und hatte keine Ahnung.
»Nein, das müssen Sie nicht«, sagte ich.
»Sehen Sie, da war es dann passiert. Gilhaney verbrachte einen Tag mit dem
Damenfahrrad und umgekehrt auch vice versa, und es ist ganz klar, daß die in
Rede stehende Dame einen hohen Anteil hatte -
fünfunddreißig oder vierzig Prozent, würde ich sagen, trotz der Neuheit des
Fahrrads. Es hat so manches graue Haar auf meinen Kopf gebracht; ständig ist
man bemüht, die Leute in dieser Gemeinde im Zaum zu halten. Wenn man es zu weit
gedeihen läßt, dann ist das der Anfang vom Ende. Dann kommen die Fahrräder und
verlangen das Wahlrecht, dann bekommen sie Sitze im Landtag und machen die Straßen
noch schlechter, als sie ohnehin schon sind, um ihre weitgesteckten Ziele zu
erreichen. Aber demgegenüber und andererseits ist ein gutes Fahrrad ein famoser
Kamerad, und es geht ein großer Zauber von ihm aus.«
-
(obr)
Unmoral (2) Es soll wieder einmal für Moral gesorgt werden. Ich ging neulich
in meiner Verzweiflung zu Wedekind, diesem noch nicht lange Verstorbenen, von
dem man mir sagte, er sei ein großer Erotiker und Unmoralist. Ich bemerkte zahlreiche
Schweinereien in einem sehr gut gespielten Stück «Pandora», ich habe vergeblich
drei Stunden auf Unmoral gewartet. Der Lustmord ließ mich eiskalt. Die Herrschaften
hätten sämtliche Konversationslexika an perversen Akten gegeneinander verüben
können, es hätte mich nicht gerührt. Das liegt an einer mir attestierten Abgebrühtheit
einerseits, anderseits an der moralischen Soße - nämlich dieses Stücks. Wenn
man über Spargel solche Heringslake gießt, so schmeckt man natürlich nur Heringslake
und merkt höchstens an den Fäden zwischen den Zähnen, daß man Spargel essen
wollte. Wie soll man nun zum Appetit kommen, solange dieser junge Alwa klönt
und jault - mit der hörbaren, fatal aufdringlichen Stimme Frank des Wedekinds.
Nach diesem Stück ist es mir zweifelhaft geworden, ob Wedekind bloß auf einem
Bein hinkte. Aus dieser Hand fresse ich kein Stück Brot. Der Mann ist imstande,
die solideste Zote zu einem metaphysischen Vorgang zu versaubeuteln. Bei mir
kann man kein Geschäft damit machen, und was die wirklichen gewaschenen Tugendbolde
anlangt, so liefen sie schon vorher weg. Bleibt ein ärgerlicher Genuß, Schweinerei
in Silberpapier eingewickelt oder der Venusberg aus den Memoiren Septimus des
Langwierigen. Es ging vorüber. -
(poot
)
Unmoral (3) Es gibt Geschöpfe -mit verfänglichem Haar, auf deren spitzen Gesichtern und abstrakten Hinterbacken ein Diktionär unendlich raffinierter Bilder prangt; ihr Körper ist zusammengesetzt und aufrechtgehalten durch eine Syntax aus Zeichen. Ein Netz von abenteuerlichen Isoglossen, schreienden und lautlosen, verwandelt zufällige Satzglieder in einen Diskurs, in ein künstliches Feuerwerk. Eine absurde und gebieterische Vornehmheit ziert diesen fremden Körper, der seinen Weg verfolgt, unbewußt Fahne, Gewirk und Wappen, grausam und geschwind. Nicht anders trägt der Mensch diese nutzlose und trügerische Flagge um sich, als Mantel und Schweißtuch, als unbequeme und kostbare Hülle, die nicht mit seinem Leib übereinstimmt. So wenig der Mandrill die Beredsamkeit seines polychromen Nacktarschs abtöten kann, so wenig können wir, o entzückender Fluch, dieses schmiegsame Wortflies von uns ablösen.
Es ist wohl wahr; die Literatur ist unmoralisch,
und es ist unmoralisch, an ihr teilzunehmen. Sie wäre schon unausstehlich, wenn
sie den Schmerz des Menschen unberücksichtigt ließe, wenn sie sich weigerte,
ihn von seinen uralten Übeln zu befreien; statt dessen stochert sie in aller
Unverschämtheit und mit störrischer Hingabe, sucht und gräbt Ängste, Krankheiten,
Leichen hervor; voll leidenschaftlicher Gleichgültigkeit, voll verächtlicher
Besessenheit, voll beharrlichem Zynismus wählt sie sie aus, stellt sie nebeneinander,
trennt, manipuliert, schneidet sie zurecht. Eine eitrige Wunde schwillt zur
Metapher, ein Blutbad ist nichts als eine Hyperbel,
der Wahnsinn nichts als ein Kunstgriff, die Sprache auf nicht wiedergutzumachende
Weise zu entstellen, ihr unverhoffte Bewegungen, Gebärden, Schlußfolgerungen
zu entdecken. Jedes Leiden ist nichts, als eine Art der Sprache sich zu rüsten,
zu handeln, wie es ihr beliebt. Es besteht kein Zweifel: die Literatur ist zynisch.
Keine Lüsternheit, die man ihr nicht nachsagen könnte, kein niedriges Gefühl,
kein Haß, keine Ranküne, kein Sadismus, der sie nicht erfreute, keine Tragödie,
die sie nicht in eisige Erregung versetzte und die behutsame, tückische Intelligenz
reizte, die sie beherrscht. Und man sehe doch, wie verschämt, mit welch scharfsinnigem
Sarkasmus sie dagegen die bloße Andeutung alles Ehrbaren behandelt. - Giorgio Manganelli, Literatur
als Lüge. Nach
(man)
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