nerschöpflichkeit
Ich komme mit einer kleinen Flasche Bordeaux auf die Bühne.
Ich leere sie völlig, indem ich ihren Inhalt in Gläser fülle; dann spüle ich
sie mit etwas Wasser aus und lasse sie sorgfältig abtropfen. Nach dieser Einleitung
begebe ich mich mitten unter die Zuschauer, halte die Flasche mit der Öffnung
nach unten und biete ihnen an, jeden gewünschten Likör auszuschenken.
Mein Vorschlag wird gewöhnlich mit großem Beifall begrüßt. Von allen Seiten
erhalte ich sofort Aufträge von Zuschauem, die dieses Kunststück erleben möchten,
sich aber auch von der Qualität der Liköre überzeugen wollen.
Jeder Wunsch wird sofort erfüllt. Es gibt keinen
Likör, ob scharf oder aromatisch, aus welchem Land auch immer, der nicht mit
größter Freigebigkeit ausgeschenkt würde.
Die Verteilung wird erst beendet, wenn der Zuschauer
fürchtet, nicht alles trinken zu können, was aus der
Flasche fließt, und auch findet, daß sein Verstand um so weniger mit der Sache
fertig werden kann, je länger er das Experiment fortsetzt; also entschließt
er sich, keine weiteren Wünsche zu äußern. - Die Memoiren des Zauberers Robert-Houdin. Hg. Alexander Adrion. Frankfurt
am Main 1981 (it 506, zuerst 1858)
Unerschöpflichkeit (2) Im Staate Dschong gab es
viele Leute, die bei Prozessen die Gesetzbücher verdrehten. Dsi Tschan verbot
das Gesetzverdrehen. Dong Si stellte darauf falsche Zeugen zur Verfügung. Dsi
Tschan verbot, das Gesetz durch Zeugen auszulegen. Da stellte Dong Si falsche
Augenzeugen auf. Die Befehle Dsi Tschans waren unerschöpflich, aber Dong Si
war ebenso unerschöpflich in Mitteln, sie zu hintergehen. Auf diese Weise war
keine Unterscheidung mehr möglich zwischen dem Erlaubten und Unerlaubten. Wenn
Erlaubtes und Unerlaubtes nicht mehr zu unterscheiden sind und man mit Lohn
und Strafe einschreiten will, so wird die Verwirrung um so schlimmer, je strenger
man mit Strafen vorgeht. Das ist das Schlimmste, vor dem sich eine Regierung
zu hüten hat. So führt Scharfsinn, der nicht mit dem Vernünftigen in Einklang
ist, zum Betrug, Erkenntnis, die nicht im Einklang mit dem Vernünftigen ist,
zu Hinterlist. Solche hinterlistigen und betrügerischen Menschen pflegten von
den Königen des Altertums hingerichtet zu werden.
- (lueb)