nerforschlichkeit  

 

Hymne an die Dummheit

Himmelsmacht, die sich verbirgt in den Falten des Stammhirns,
bodenlose Mitgift an das Menschengeschlecht in saecula saeculorum,
unzählig wie die Milchstraße bist du
und vielfältig wie das Gras.

Mächtige Zwillingsschwester der Intelligenz, Händchen haltend
zelebrierst du mit ihr ein trübsinniges Palaver.

Ja, es ist stark, wie du uns inspirierst in immer neuen Verwandlungen,
als weibliche Dämlichkeit und als männliche Idiotie,

wie du aus den blutunterlaufenen Augen des Schlägers leuchtest
und einhertrippelst im aristokratisch hüstelnden Dünkel,
wie du uns anwehst mit dem Mundgeruch einer beschickerten Muse
und als vielsilbiges Delirieren im philosophischen Seminar.

Was wäre der Tüchtige ohne dich, stock-, stroh- und hundsdumme Dummheit,
die feurig durch seine Adern rollt wie eine Überdosis Amphetamin,

und der Forscher ohne die fixe Idee, der er durch die weißen Korridore
seines Instituts hinterherrappelt wie die Ratte im Labyrinth!

Gar nicht zu gedenken der Weltgeschichte, wessen gedächte sie denn,
wenn nicht der Sieger in ihrem napoleonischen Stumpfsinn.

So wird uns wohl der dümmliche Stolz des Gewinners erhalten bleiben
und der dumpfe Groll des Verlierers, nur hie und da versüßt

durch den erleuchteten Sums der Sektenprediger,
der Komiker und Quartalssäufer. Dummheit,

oft Verleumdete, die du dich in deiner Schlauheit
dümmer stellst als du bist, Beschützerin aller Hinfälligen,
nur den Auserwählten läßt du zuteilwerden deine seltenste Gabe,
die gebenedeite Einfalt der Einfältigen.

Sie sind die unbeschriebenen Blätter in deinem großen Buch,
dessen Siegel du keinem von uns eröffnest. 

  - Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1995)

Geheimnis

 

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