Dies klingt harmlos, aber eine auf diese «intuitive» Weise definierte
Mathematik erwies sich als ein viel kleineres System
als das, was Brouwers Zeitgenossen unter «Mathematik» verstanden.
Dieses Gedankengebäude schließt solche vertrauten Begriffe wie «Unendlichkeit»
aus und zerstörte die Eckpfeiler des logischen Schließens: In ihm gehören
nur solche Aussagen zur Mathematik, die sich durch eine endliche Folge
konstruktiver Schritte beweisen lassen. Damit hat das alte logische Verfahren
der reductio ad absurdum, also der indirekte Beweis
durch Widerspruch, keine Gültigkeit mehr. (Der indirekte Beweis dafür,
daß eine Aussage wahr ist, besteht darin zu zeigen, daß es zu einem logischen
Widerspruch führt, wenn diese Aussage nicht wahr wäre.) Diese traditionelle
Form des logischen Widerspruchsbeweises konstruiert die wahre Aussage allerdings
nicht in einer Folge von logischen Schritten; vielmehr zeigt sie nur, daß
ein logischer Widerspruch entstehen würde, wenn die Aussage falsch wäre.
Dies klingt ganz annehmbar, beruht aber, wie wir bemerken müssen, auf der
Bedingung, daß eine Aussage entweder wahr oder falsch ist. Dieses sogenannte
Prinzip des ausgeschlossenen Dritten erkannte Brouwer nicht an,
sondern er ließ als «Drittes» ein «Unentschieden»
zu, das er solchen Aussagen zuschrieb, deren Wahrheit oder Falschheit nicht
in einer endlichen Anzahl deduktiver Schritte aufweisbar war. - (
bar
)
Jedoch eine Untersuchung, ob etwas geträumt oder geschehn sei, nach diesem
Kriterium anzustellen, wäre sehr schwierig und oft unmöglich; da wir keineswegs
im Stande sind, zwischen jeder erlebten Begebenheit und dem gegenwärtigen Augenblick
den kausalen Zusammenhang Glied vor Glied zu verfolgen, deswegen aber doch nicht
sie für geträumt erklären. Darum bedient man sich im wirklichen Leben, um Traum
von Wirklichkeit zu unterscheiden, gemeiniglich nicht jener Art der Untersuchung.
Das allein sichere Kriterium zur Unterscheidung des Traumes von der Wirklichkeit
ist in der That kein anderes, als das ganz empirische des Erwachens,
durch welches allerdings der Kausalzusammenhang zwischen den geträumten Begebenheiten
und denen des wachen Lebens ausdrücklich und fühlbar abgebrochen wird. Einen
vortrefflichen Beleg hiezu giebt die Bemerkung, welche Hobbes im Leviathan
macht: nämlich daß wir Träume dann leicht auch hinterher für Wirklichkeit
halten, wann wir, ohne es zu beabsichtigen, angekleidet geschlafen haben, vorzüglich
aber, wann noch hinzukommt, daß irgend ein Unternehmen, oder Vorhaben, alle
unsere Gedanken einnimmt und uns im Traum eben so wie im Wachen beschäftigt:
in diesen Fällen wird nämlich das Erwachen fast so wenig als das Einschlafen
bemerkt, Traum fließt mit Wirklichkeit zusammen und wird mit ihr vermengt. Dann
bleibt freilich nur noch die Anwendung des Kantischen Kriteriums übrig:
wenn nun aber nachher, wie es oft der Fall ist, der kausale Zusammenhang
mit der Gegenwart, oder dessen Abwesenheit, schlechterdings nicht auszumitteln
ist, so muß es auf immer unentschieden bleiben, ob ein Vorfall geträumt oder
geschehn sei. - Hier tritt nun in der That die enge Verwandtschaft zwischen
Leben und Traum sehr nahe an uns heran: auch wollen wir uns nicht schämen sie
einzu-gestehn, nachdem sie von vielen großen Geistern anerkannt und ausgesprochen
worden ist. Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntniß
der wirklichen Welt, welche sie
das Gewebe der Maja nennen,
keinen bessern Vergleich und brauchen keinen häufiger, als den Traum. Plato
sagt öfter, daß die Menschen nur im Traume leben, der Philosoph allein sich
zu wachen bestrebe. Pindaros sagt: Der Traum eines Schattens ist der
Mensch. - Veden, nach (wv)
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