(seume)
Unbefangenheit
(2)
Alle Dinge, sagt Plato, sind durch die Natur, das Glück
oder die Kunstfertigkeit erzeugt; die größten und schönsten durch eines
der beiden ersten; die geringeren und unvollkommneren durch die letztere.
Diese Völker scheinen mir also in diesem Sinne barbarisch, daß sie nur sehr wenig Zuschliff von Menschengeist erfahren haben und ihrer ursprünglichen Unbefangenheit noch sehr nahe sind. Sie folgen noch den natürlichen Gesetzen, noch kaum durch die unsern verderbt; und dies in einer Reinheit, um derentwillen es mich zuweilen verdrießt, daß die Kunde davon nicht früher zu uns gelangt ist, zu einer Zeit, da es noch Menschen gab, die besser als wir darüber zu urteilen gewußt hätten.
Es tut mir leid, daß Lykurg und Plato diese Kenntnis nicht hatten; denn mir scheint das, was wir am Beispiel dieser Völker sehen, nicht nur alle Schilderungen zu übertreffen, mit denen die Dichtkunst das Goldene Zeitalter ausgeschmückt hat, und alle Erfindungen, um einen glücklichen Zustand der Menschheit auszumalen, sondern selbst den Begriff und das Wunschbild der Philosophie. Sie vermochten sich keine so reine und einfache Natürlichkeit zu erdenken, wie wir sie in der Erfahrung sehen; noch konnten sie glauben, daß unsere Gesellschaft mit so wenig menschlicher Zurichtung und Verkittung bestehen könne. Dies ist eine Nation, würde ich zu Plato sagen, in der es keinerlei Art von Handelsgeschäften gibt; keine Kenntnis der Schrift; keine Zähl- und Rechenkunst; keine Begriffe für Würdenträger oder staatliche Obrigkeit; keinen Zustand der Dienstbarkeit, des Reichtums oder der Armut; keine Verträge; keine Erbfolgen; keine Güterteilungen; keine anderen Beschäftigungen als Zeitvertreib; keine Rücksicht auf Verwandtschaft als auf die allen gemeinsame; keine Bekleidung; keinen Ackerbau; kein Metall; keinen Gebrauch des Weins oder des Getreides. Unerhört sogar die Worte, welche die Lüge, den Verrat, die Verstellung, den Geiz, den Neid, die Verleumdung, die Verzeihung bezeichnen. Wie weit entfernt von dieser Vollkommenheit fände er die Republik, die er sich ausgesonnen hat.
Im übrigen leben sie in einem höchst lieblichen und sehr milden Landstrich, so daß es nach Aussage meiner Zeugen dort eine Seltenheit ist, einen Kranken zu finden; und sie haben mir versichert, dort keinen zittrigen, triefäugigen, zahnlosen oder vom Alter gebeugten Menschen angetroffen zu haben. Sie sind der Meeresküste entlang niedergelassen, nach dem Landesinnern aber von großen und hohen Gebirgen abgeschlossen, und zwischen beiden erstrecken sich etwa hundert Meilen ebenen Landes. Sie haben Fische und Fleisch die Fülle, die gar keine Ähnlichkeit mit den unsrigen haben, und verzehren sie ohne andere Zubereitung, als sie gar zu kochen.
Der erste, der ein Pferd zu ihnen brachte, obwohl
er auf vielen andern Reisen Umgang mit ihnen gehabt hatte, versetzte sie
in seiner Erscheinung als Berittener in solches Entsetzen,
daß sie ihn mit Pfeilschüssen töteten, ehe sie ihn zu erkennen vermochten.
- (
mon
)
Unbefangenheit
(3)
Das
Kino lag abseits in einem Hof, über dessen Mauer Büsche hingen. Eugen wartete
unter den Leuten vor dem Billetthäuschen und zündete sich eine Zigarette
an. Da saß dann eine Frau auf einem Steinblock und schlug die Augen zu
ihm auf. Sie schaute aus, als ob sie aus dem Urlaub käme, und ließ ihre
Augen schweifen trotz ihrem Mann, der bei ihr saß. Ihr hellgraues Kostüm
(zum blonden Haar das richtige) schien aus demselben Stoff gemacht zu sein
wie Eugens Anzug, und auch ihr Mann war so gekleidet. Beide schienen zu
denen zu gehören, die nicht alles in sich hineinlaufen ließen, was sich
ihnen aufdrängte, und »Les enfants du paradis« war auch kein Film für jedermann,
weil alles, was darin vorkam, unwahrscheinlich wirkte und solchen gefiel,
die sich mehr wünschten, als was jeder haben konnte. Und immer noch schlug
die Dame ihre Augen zu ihm
auf.
Weil der Hof frisch gekehrt war, schaute er sich um, wo er seinen Zigarettenstummel so wegwerfen konnte, daß er nicht auffiel, und als er ihn in eine mit Erde gefüllte Vase steckte, nickte ihm die Dame nahezu bewundernd zu. Die Kasse wurde aufgemacht, die Dame schob sich vor ihm ans Zahlfenster, lächelte über die Schulter und verlangte zwei Karten in einer hinteren Reihe; doch Eugen nahm sich eine billige.
Sie hatte doch den Mann dabei. Entweder war es der gewohnt, daß seine
Frau sich so bewegte, oder er hatte ihr zugeflüstert: kümmere dich um den,
ich möchte ihn kennenlernen. Kurios das Ganze und etwas für einen, der
unbefangener als Eugen war. - Hermann Lenz, Ein Fremdling.
Frankfurt am Main 1988 (st 1491, zuerst 1983)
Unbefangenheit
(4)
Diese
ist das Leben der Talente, der Athem der Rede, die Seele des Thuns, die
Zierde der Zierden. Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unserer
Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. Sogar im Denken wird
sie sichtbar. Sie am allermeisten ist Geschenk der Natur und dankt am wenigsten
der Bildung: denn selbst über die Erziehung ist sie erhaben. Sie ist mehr
als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit:
sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie
ist alle Schönheit todt, alle Grazie
ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit,
über Vorsicht, ja über Majestät. Sie ist ein feiner Richtweg, die Geschäfte
abzukürzen, oder auf eine edle Art aus jeder Verwickelung zu kommen. -
Balthasar
Gracian, Hand-Orakel
Unbefangenheit
(5)
Swann machte
einen ausgezeichneten Eindruck auf sie, bei dem, ohne daß sie es wußten,
sein Umgang in den Kreisen der eleganten Gesellschaft
indirekt mit im Spiele war. Er besaß nämlich selbst vor klugen Leuten, die aber
nicht in der Gesellschaft verkehren, einen Vorteil, der allen gemeinsam ist,
die es ihrerseits tun, nämlich daß sie diese nicht mehr infolge einer die Phantasie
beherrschenden Sehnsucht danach überschätzen oder aus Widerwillen gänzlich bagatellisieren.
Die Liebenswürdigkeit dieser Menschen, die von jedem
Snobismus ebenso frei ist wie von der Furcht, allzu liebenswürdig zu scheinen,
und die daher ganz unbefangen sind, hat die Leichtigkeit und spielerische Anmut
von Leuten, deren guttrainierte Glieder genau das ausführen, was sie ausführen
sollen ohne aufdringlich ungeschickte Teilnahme des übrigen Körpers. Die elementare
Gymnastik des Weltmannes, die darin besteht, daß er dem jungen Unbekannten,
der ihm vorgestellt wird, liebenswürdig die Hand reicht und dem Botschafter,
dem man ihn vorstellt, eine reservierte Verbeugung macht, war bei Swann, ohne
daß er es wußte, zum Prinzip seines gesellschaftlichen Verhaltens überhaupt
geworden. -
Marcel Proust, In Swanns Welt (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt
am Main 1965, zuerst 1913 ff.)
Unbefangenheit
(6)
Edle,
freie Unbefangenheit bei Allem. Diese ist das
Leben der Talente, der Athem der Rede, die Seele des Thuns, die Zierde der Zierden.
Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der
der Vollkommenheiten selbst. Sogar im Denken wird sie sichtbar. Sie am allermeisten
ist Geschenk der Natur und dankt am wenigsten der Bildung: denn selbst
über die Erziehung ist sie erhaben. Sie ist mehr als
Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit:
sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist
alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist
überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit,
über Vorsicht, ja über Majestät. Sie ist ein feiner
Richtweg die Geschäfte abzukürzen, oder auf eine edle Art aus jeder Verwickelung
zu kommen. - (
ora
)
Unbefangenheit
(7) Ein ehrlicher
Landprediger, der den Auftrag hatte, einer liederlichen Dirne das Gewissen zu
schärfen, berichtete an ein hochpreisliches, hochwürdiges Konsistorium in aller
Unschuld des Herzens: „Anne Marie N. N. habe ich dreimal in meiner Studierstube
hergenommen, sie bezeigte zwar viel Scham dabei, ich habe aber dennoch nichts
in sie hineinbringen können." - (
kjw
)
Unbefangenheit
(8) Als es eines Abends
spät wurde, versicherte Z. denen, die noch geblieben waren, die Unbefangenheit
sei ein hohes Gut. Wer sie eingebüßt habe, pflege sich nur noch verdruckst zu
äußern. Die vielgeschmähte politische Korrektheit
sei nur eines unter vielen Symptomen der traurigen und wehleidigen Gemütsverfassung,
unter der viele unserer Mitmenschen litten. Was auf diese Weise verlorengehe,
habe mit Ideologie nichts zu tun und lasse sich schwerlich zurückgewinnen. - Hans Magnus Enzensberger, Herrn Zetts Betrachtungen
oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Berlin 2014
Unbefangenheit
(9) Einer von Mr. Geards
tiefsten Wescnszügen - ein Zug, wozu seine lange angelsächsische Ahnenreihe,
die sich ihre Eigenheit in Jahrhunderten normannischer Tyrannei hartnäckig bewahrt
hatte, den Grundstock, seine einzigartige eigene seelische Selbstsicherhcit
jedoch den inneren magnetischen Pol geliefert hatten -war die Fähigkeit, sein
ganzes Wesen zu entspannen und sich in Anwesenheit
anderer körperlichen Empfindungen ohne die geringste Befangenheit oder Verlegenheit
hinzugeben. Dieser Wesenszug, dieses völlige Ausbleiben schüchterner Befangenheit
hatte immer eine beruhigende Wirkung auf Frauen, Kinder und Tiere, wie es zweifellos
auch bei Eingeborenen der Fall gewesen wäre.
Genau dieses tiefe Geheimnis körperlicher Gelöstheit, diese merkwürdige körperliche
Unbefangenheit verlieh Mr. Geard seinen Vorteil bei wahren Adeligen, die in
ihrer Verachtung für steifes Benehmen starke Ähnlichkeit mit Frauen und Eingeborenen
haben. - (cowp)
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