Unähnlichkeit   Begreifen Sie? Ein Universum an Interpretationen. Jedes noch so bescheidene Wort versetzt uns an eine Kreuzung, von der viele Wege abzweigen, und jede Richtung, die wir einschlagen, kann die richtige sein. Weder das Wort Kaffee noch das Wort Tabak bedeuten, für sich genommen, sehr viel. Und Ähnliches läßt sich von den Menschen sagen, denn auch ein Mensch bedeutet, einzeln betrachtet, nicht allzu viel. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, jemand würde anhand meiner Person die übrigen Menschen begreifen wollen und eine umfangreiche Abhandlung über die Menschheit schreiben. Das Buch würde unzweifelhaft ein Fiasko werden, denn zum Glück oder zum Unglück bin ich niemandem ähnlich. Ich habe nichts oder nur sehr wenig mit meinesgleichen gemein. - (marq)

Unähnlichkeit (2) Fest steht, daß er nie eine Zeitung gelesen hat; daß er sich seine Handschuhe selber strickte; daß er fortwährend Koffer, Bücher, Mäntel verlor; und daß er, sofern er bei Tisch sein hartnäckiges Schweigen brach, in ein schrilles Gestotter verfiel oder krähend lachte. Seine Augen waren von einem strahlenden, anorganischen Blau, wie aus gemaltem Glas.

Wir wissen ferner, daß er sich sorgfältig isoliert hat; daß er Zerlumptes trug, im Zwischendeck reiste, in Absteigen schlief. Offenbar war er darauf bedacht, sich zu löschen. Eines Nachts hat er sich in seinem Landhaus, einer Bruchbude, wie in einem Roman von Agatha C., aus Versehen vielleicht, mit Zyankali vergiftet. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist reiner Zufall.

Zahnräder schnitt er sich selber, an einer Drehbank in seinem Kartoffelkeller. Aus Überdruß an öffentlichen Verkehrsmitteln lief er oft meilenweit über Land. Radios und andere Geräte pflegte er mit Bindfäden zu reparieren. Der Geheimdienst schätzte ihn, weil er jeden Code brechen konnte. Allerdings wurde er leicht ohnmächtig, auch ohne ersichtlichen Grund.

Davon abgesehen, pflegte er durch den Regen zu radeln; dabei fand er es praktisch, sich einen Küchenwecker an den Gürtel zu schnallen und eine Gasmaske aufzusetzen; jenes, um immer pünktlich zu sein, dieses aus Furcht vor dem Heuschnupfen, denn er litt an Asthma; immerhin ist das ein menschlicher Zug, der beruhigend wirkt. Warum er es stets vermied, die Haut anderer Personen, einerlei welchen Geschlechts, zu berühren, darüber wissen wir nichts.

Jedenfalls will das Gerücht nicht verstummen, man könne ihn, oder sein Simulacrum, zuweilen, an feuchten Oktobertagen besonders, in der Umgebung von Cambridge, auf abgemähten Stoppelfeldern, unberechenbar Haken schlagend, im Nebel querfeldein laufen sehen.  - Hans Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002

 

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