Umverteilung   Ein Brauch der barbarischen Bevölkerung dieses öden, von den Errungenschaften der Zivilisation nur im negativen berührten Gebietes hieß den ältesten, am nächsten stehenden männlichen Angehörigen für die Dauer eines Jahres in die Kleider des Verstorbenen schlüpfen. Dieses Los hatte ich gezogen. Onkel und Tante waren unverheiratet und kinderlos geblieben; ich war das drittgeborene von vier Kindern, aber das einzige aus meiner Mutter zweiter Ehe. Mein Vater war noch vor meiner Geburt im Krieg gefallen. So sollte ich nun in dem viel zu weiten, um Brust und Beine flatternden Gewand, das um den Bauch von einer Schnur zusammengehalten wurde, wie man sie für das Zusammenbinden von Postsäcken verwendet, das plötzlich verlöschte Leben des Onkels weiterfüh­ren, sei es, weil der Erfinder dieser menschenunwürdigen Einrichtung damit versprochen hatte, die feindlichen Geister zu bannen, sei es, daß er selbst geglaubt hatte, die Seelen der Verstorbenen würden eher Ruhe finden, wenn sie dann und wann in der ersten, schweren Zeit nach dem. Tod ihre alte Umgebung heim­suchten und alles Rechtens vorfanden.

Während dieses ersten Jahres nach dem Tod war es den Hinterbliebenen bei Körperstrafe untersagt, Türen und Fenster ihrer Wohnstätten zu verschließen. - Diese Einrichtung, so wurde mir erklärt, ergäbe sich folgerichtig aus dem vorhin genannten Brauchtum, durch sie sollte die unbehinderte Einkehr der heimat­los gewordenen Seele gewährleistet werden: Das Haus sollte offenstehen, ein Bett für den Verstorbenen frisch bezogen sein, ein Teller mit einem einfachen Reisgericht, mit Früchten je nach Jahreszeit und einem Stück kalten Gebratenen sollte in der Speisekammer warten. - In Wahrheit aber war diese Bestimmung die verkümmerte Frucht eines einst wohl fortschrittlich zu nennenden Gesetzes, das konsequent auf eine gewaltlose Umverteilung des Eigentums abgezielt hatte, indem es die Hinterlassenschaft der Verstorbenen auf Jahresfrist zu einer freistehenden Sache erklärte.

Jedermann durfte sich ihrer so lange in angeborener Freiheit bemächtigen und jedermann durfte sie - unter Schonung der Substanz - als seine Sache betrachten, wobei er ihre Fruchtnießung ohne alle sonstigen Einschränkungen auskosten konnte.

Unter der Patronanz des schönen Scheins eines sinnlosen Brauchtums machte sich also die verarmte Bevölkerung rücksichtslos die ursprüngliche Absicht des Gesetzes wechselseitig zunutze, indem sie sich an der spärlichen Verlassenschaft der Verstorbenen bereicherte, bis ein Todesfall in der eigenen Fami­lie alle Frucht- und Nutznießungsrechte gegenstandslos machte.  - Klaus Hoffer, Bei den Bieresch. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1979/1983)

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