mkreisen  Die einfache Form der Kaaba, der schwarze Brokat: die Kiswa - schön wie ein Brautschleier -, der pilgersatte Innenhof, der Strudel um den unbeugsamen Kubus herum. Die Atmosphäre von Erregung und Beglückung, aufgeladen mit Lebensträumen, die sich in diesen Augenblicken verwirklichten. Und ohne nachzudenken, ohne mich vorbereitet zu haben, kam in mir ein bestimmter, klarer Wunsch auf, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Wir stiegen vorsichtig über die vielen Menschen, die sich am Rande des Innenhofs niedergelassen hatten und den Zugang zur Kaaba blockierten, und überließen uns dem Strudel, um das tawaf zu absolvieren, das siebenmalige Umkreisen der Kaaba.

Fast lösten wir uns in dem Gedränge auf, die Kaaba aber, die wir während des tawaf nicht anblicken sollten, blieb ein ruhender, ein verläßlicher Mittelpunkt. Ihre Ecken zeigen in die vier Himmelsrichtungen. Die kleine goldene Tür in dem grauen Kubus war verschlossen (einmal im Jahr wird sie für die zeremonielle Reinigung in Gegenwart des saudischen Königs geöffnet), und nichts verzierte den Bau außer dem schwarzen Kiswa-Tuch, das an den Enden hochgeschlagen war, um die Hadschzeit anzudeuten, vielleicht aber auch um es vor den vielen gierigen Pilgerhänden zu schützen.

Wir befanden uns am äußeren Rand des Gedränges. Es war undenkbar, die ersten drei Umrundungen wie vorgeschrieben im Laufschritt zu bewältigen, die ›Brust herausgestreckt wie ein tapferer Soldat‹, die rechte Schulter freigelegt. Die Umrundung beginnt an der Ecke, wo der schwarze Stein eingefaßt ist, dieses mysteriöse Relikt aus Urzeiten, ein Meteorit vielleicht, laut Legende einst weiß wie Kalk, aber von den vielen sündigen Lippen und Händen, die ihn im Laufe der Zeit berührt haben, dunkel geworden. Wir wichen Sänften aus, auf denen die Gebrechlichen im Laufschritt um die Kaaba geschleppt wurden. Ich stieß gegen einen Pilger, der die Gebete vom Blatt ablas - manche Gruppen folgen einem Vorbeter, dessen einzeilige Rufe sie im Chor wiederholen. Ich wurde überholt von einem Araber, der eifrig telefonierte und sein Gespräch nur unterbrach, um ein Bismillah Allahu Akbar anzubringen. Auf einer Runde umarmte mich ein alter Mann aus dem Norden Pakistans, und wir taumelten zusammen weiter, trunken vor Freude, unsere Gebete sowie unsere Schritte einander angepaßt, und für eine Weile war mir der Mann Großvater und Bruder zugleich. Die Aufregung der Menge brach durch meine Gebete. Wir taumelten, jemand klammerte sich an meine Schulter, jemand riß mir den oberen Stoff beinahe weg, wir holten kollektiv Luft.  - Ilija Trojanow, Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton. München 2008 (zuerst 2007)

Umkreisen ⁽²⁾  Während man sich umkreisend der Kaaba nähert, fühlt man sich als Bächlein, das mit einem großen Fluß verschmilzt. Getragen von einer Welle, löst man sich vom Boden. Auf einmal treibt man auf einer Flut dahin. Je näher man zum Mittelpunkt gelangt, desto fester drückt einen die Menge, so daß man neues Leben erhält. Man ist jetzt Teil der Gemeinschaft; ein Mensch, lebendig und unsterblich ... Die Kaaba ist die Sonne der Welt, ihr Gesicht zieht einen in ihre Umlaufbahn. Man ist zu einem Teil ihres universalen Systems geworden.  - Ali Shariati, iranischer Religionslehrer. Nach: Ilija Trojanow, Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton. München 2008 (zuerst 2007)

Umkreisen ⁽³⁾  

- N. N.

Umkreisen ⁽⁴⁾  Die Peinlichkeit, wie ein Hündchen hinter ihr herzuhecheln, war ihm nicht unangenehm, denn von hinten sah sie noch besser aus als von der Seite. Doch als er zu ihr aufgeschlossen hatte, musste er zugeben, dass sie von der anderen Seite sogar noch besser als von hinten aussah, während sie, wie ihm sofort klar wurde, als er sich im Überholen, rückwärts weiterstolpernd, ihr zuwandte, von vorn noch besser als von der Seite aussah, doch indem er seine Kreisbahn fortsetzte, musste er zu seiner großen Überraschung feststellen, dass sie von der Seite noch einmal besser als von vorn aussah, am meisten musste er aber staunen, dass sie von hinten abermals weitaus besser als von der Seite aussah, bis er im Aufholen begriff, dass sie von der Seite deutlich besser als von hinten aussah, aber am besten sah sie doch eindeutig von vorn aus, wie ihm sofort klar wurde, als er sich im Überholen rückwärts weiterstolpernd ihr zuwandte.

»Hey!!! Beruhig dich! Was bist du für ein Idiot?«

Ihre Stimme brachte ihn zur Besinnung, und er überlegte kurz, ob er sein Gehirn nicht rechtzeitig, bevor es völlig aufgelöst war, der Wissenschaft zur Verfügung stellen sollte. - Wolf Haas, Verteidigung der Missionarsstellung. Hamburg 2012