mfallen Durch seinen Scharfsinn wurde Crozet mir sehr nützlich, denn er ging rnir von Natur völlig ab, und er brachte es, wie mir scheint, fertig, ihn mir zum Teil einzuimpfen. Zum Teil, sage ich, denn ich muß mich immer wieder dazu zwingen. Und wenn ich etwas entdecke, neige ich dazu, meine Entdeckung übertrieben wichtig zu nehmen und außer ihr nichts mehr zu sehen.
Ich entschuldige diesen Fehler meines Geistes, indem ich ihn als notwendige Wirkung und sine qua non einer übermäßigen Beeindruckbarkeit erkläre.
Ergreift ein Gedanke mitten auf der Straße übermächtig von mir Besitz, falle ich um. So geschah mir in der Rue de Richelieu in der Nähe der Rue des Filles-Saint-Thomas. Es war der einzige Fall während fünf oder sechs Jahren, veranlaßt im Jahre 1826 durch folgendes Problem: Soll Herr de Belleyme seinem Ehrgeiz zuliebe sich zum Abgeordneten wählen lassen oder nicht? Es war zu der Zeit, als Herr de Belleyme, der Polizeipräfekt (der einzige populäre Beamte zur Zeit der Bourbonen der älteren Linie), auf ungeschickte Weise versuchte, Deputierter zu werden.
Wenn mir die Gedanken auf der Straße einfallen, bin ich immer drauf und dran,
mit einem Passanten zusammenzustoßen, hinzufallen oder überfahren zu werden.
Eines Tages (ein Begebnis unter hunderten), in der Nähe der Rue d'Amboise in
Paris, starrte ich dem Doktor Edwards ins Gesicht, ohne ihn zu erkennen. Das
heißt, in mir ging zweierlei vor: Einerseits sagte ich mir wohl: Da kommt Doktor
Edwards, aber andererseits hing ich meinen Gedanken nach und folgerte darum
nicht: Du mußt ihm guten Tag sagen und mit ihm reden. Der Doktor war sehr erstaunt,
aber nicht im geringsten erzürnt.
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(brul)
Umfallen (2) Das Mädchen
ging ein paar Schritte auf mich zu, unsicher, ob ich ein Verkäufer sei. Die
Rolltreppe lief an. Sie bewegte sich leise,
das Mädchen aber blieb stehen, eine schmale Figur in Hosen. Ich machte kehrt,
um hinauszugehen. Daran war nichts Besonderes. Sie hatte ein kindliches, unausgeprägtes
Gesicht, einen kleinen Mund, und nur daß sie mit runden Augen durch mich hindurchsah
und dabei mit dem Finger am Kragen ihrer weißen Bluse kratzte, bewirkte, daß
ich im Vorbeigehen den Schritt verlangsamte; da fiel sie lautlos mit unbewegtem
Gesicht nach hinten. Ich war so unvorbereitet, daß sie wie ein Klotz zu Boden
stürzte, bevor ich zuspringen konnte. Es gelang mir nicht, sie aufzufangen,
sondern nur ihren Fall zu mildern und sie bei den Armen zu fassen, als legte
ich sie mit ihrem Einverständnis auf den Rücken. Da lag sie wie eine Puppe.
Wer von außen hereinsah, hätte meinen können, ich kniete vor einer umgefallenen
Schaufensterpuppe, denn zu beiden Seiten der Fenster standen Puppen in neapolitanischer Tracht, und ich kniete mitten dazwischen, über die eine gebeugt. Ich faßte nach ihrem Handgelenk. Der Puls ging schwach, aber regelmäßig. Sie lag mit leichtgeöffnetem Mund, man sah das Weiße in ihrem Auge, als schliefe sie mit halb geschlossenen Lidern. Hundert Meter weiter fuhren die Autos bei der Tankstelle vor, drehten dann sofort ab und kehrten in weißen Staubwolken zurück zum dröhnenden Strom der Strada de! Sol. Nur zwei Wagen standen vor dem Pavillon, meiner und der
des Mädchens. Langsam richtete ich mich auf. Noch einmal musterte ich die Liegende.
Der Unterarm mit dem schmalen Handrücken, den ich losgelassen hatte, schwang
langsam zur Seite. Als er den Oberarm nach sich zog und die hellen Härchen der
entblößten Achselhöhle enthüllte, bemerkte ich dicht unter ihnen zwei Zeichen,
kleine Kratzer oder winzige Tätowierungen.Ich hatte einmal Ähnliches bei gefangenen
SS-Leuten gesehen, ihre Blutgruppe. Hier aber war es wohl ein gewöhnliches Muttermal.
Meine Beine bebten in dem Wunsch, erneut hinzuknien, doch ich zügelte diesen
Reflex und ging zur Tür, Wie um zu unterstreichen, daß die Szene beendet sei,
blieb die lautlos gleitende Rolltreppe stehen. - Stanislaw Lem, Der Schnupfen.
Frankfurt am Main 1979
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