Nun frage ich, welchen Wert können denn Lebewesen für die Natur haben, die
sie nie die geringste Mühe noch Sorge kosten. Der Arbeiter schätzt sein Werk
nur nach der Arbeit, die es ihm macht, nach der Zeit, die er aufwendet, um es
zu schaffen. Also, wie ist es, verursacht der Mensch der Natur Mühe? Und, angenommen
er täte es, kostet er sie mehr Mühe als ein Affe oder
ein Elefant? Ich gehe noch weiter: Welches sind die
Urstoffe der Natur? Woraus setzen sich die Wesen zusammen, die auf die Welt
kommen? Rühren die drei Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, nicht ursprünglich
von der Zerstörung anderer Körper her? Wenn alle Einzelwesen
ewig lebten, wäre es dann der Natur nicht unmöglich, neue zu erschaffen? Wenn
aber in der Natur ewiges Leben der Individuen unmöglich ist, wird Zerstörung
der Individuen zum Naturgesetz. Folglich, wenn die Zerstörung für die Natur
so nützlich ist, daß sie sich ihrer nicht entschlagen kann, und wenn sie kein
Leben schaffen kann, ohne aus den Rohstoffen der Zerstörung zu schöpfen, die
der Tod ihr verschafft, so wird die Vorstellung von totaler Vernichtung,
die wir mit dem Tod verbinden, nicht mehr der Realität entsprechen; es wird
keine endgültige Vernichtung mehr geben; was wir das Lebensende eines Tieres
nennen, wird kein tatsächliches Ende mehr sein, sondern eine einfache Transmutation,
deren Grundlage die fortwährende Bewegung ist. Bewegung
ist das wahre Wesen der Materie; sie wird von allen modernen Philosophen
als eines der obersten Gesetze der Materie angesehen. Der Tod ist also, nach
diesen unwiderlegbaren Prinzipien, nichts als eine Veränderung der Form, .nichts
als ein unmerklicher Übergang von einer Existenzform in eine andere, und das
ist genau das, was Pythagoras Metempsychose
nannte. - Marquis de Sade, Die Philosophie
im Boudoir. Gifkendorf 1989 (zuerst ca. 1790)
Aber ... Das Blut erstarrte ihm in den Adern und floß fast im selben Augenblick in heftigen Stößen wieder zum Magen zurück. Statt des dünnen Fußgelenks und des anmutigen Fußes staken unter dem Kleid zwei gespaltene Bocksfüße, von eleganter Form zwar, aber ganz dürr; sie waren unter den Stuhl zurückgezogen worden. Und sonderbar, diese Hufe schienen bei genauem Hinschauen die logische Fortsetzung der schlanken Beine zu sein, wobei es den paar Büscheln rauhen Fells nicht gelang, eine ideale Verbindung zwischen dem beweglichen Körper und seinen mißgestalteten Fortsätzen herzustellen.
Nachdem sich der erste Schrecken und der Abscheu
etwas gelegt hatten, überkam Giovancarlo eine Art selbstvergessene Ruhe, in
der jedoch ein paar dringliche Fragen laut wurden. Nicht daß er sich über die
Tatsache an sich, daß ein Mädchen Bocksbeine hatte, zu sehr den Kopf zerbrochen
hätte oder daß ihm dies sogar außergewöhnlich vorgekommen wäre; er fragte sich
vielmehr, ob die Anwesenden, der Onkel und die andern, es ebenfalls bemerkt
hätten, und, wenn das der Fall wäre, wieso sie, die sich eben noch über eine
Limonade hatten ereifern können, mit diesem Mädchen so selbstverständlich und
vertraulich umzugehen vermochten. Diese Frage beantwortete sich der junge Mann
gleich so — ohne zu wissen warum —, daß sie nichts bemerkt haben konnten; obwohl
es schwierig war anzunehmen, sie hätten keine Ahnung davon, denn sie schienen
das Mädchen ja gut zu kennen. Wie dem auch sei, Giovancarlo dachte nicht daran,
selbst Alarm zu schlagen; es wäre ihm äußerst ungehörig vorgekommen, die Aufmerksamkeit
auf die Mißbildung des Mädchens zu lenken oder nur darauf anzuspielen. Ganz
im Gegenteil, glaubte er sie durch einen seltsamen Zufall, dessen Sinn und Zweck
ihm selber nicht klar war, gewissermaßen als Geheimnis, als verstecktes Einvernehmen
zwischen ihnen beiden verstehen zu müssen. Außerdem verlangte eine weitere Frage
nach einer eindeutigen Beantwortung: Wo genau, an welcher Stelle
seines Körpers hörte das Mädchen auf, Frau zu sein, und verwandelte sich in
eine Ziege? Hier verlor sich der junge Mann in vage Vermutungen und versuchte
vergeblich, sich den Übergang — wie er aussah, wo er sich befand — genau vorzustellen
und mitten in der samtenen weiblichen Haut den Ansatz des Tierfells auszumachen.
-
Tommaso Landolfi, Der Mondstein. Zürich 1995 (zuerst 1972)
- (
rp
)
Übergang (4) Wie auch nur hätte ich
begreiflich davon sprechen sollen, daß ich auf das Erlebnis jener Stunde nicht
verzichten konnte, von der ich mich am meisten gebannt fühlte: auf die Stunde
des Übergangs, auf die des Waltens jener Grenzenlosigkeit, die dem Einbruch
der Nacht vorausging, die sich in kaum merklichen Überlagerungen von Licht ausdrückte,
in unwirklichen Farben manifestierte, in Geräuschen, deren Ursache verloren
war ... in Gerüchen, vom Wechsel der Temperaturen aus den Spalten und Verschiebungen
der Rinden gelöst, welche die sichtbaren Oberflächen scheinbar fest abgeschottet
hatten . . . nicht missen wollte ich die Stunde, da unbekanntes und totgesagtes
Leben auskroch im Schutz der Schatten, auskroch in der Stunde der Schatten,
die über die Welt wanderten, um sie dem Auge zu verschleiern, in der Stunde
der verschleiernden Schatten, die sich im Grab der Nacht bargen, und in der
Stunde, da die Verschwundnen ihren Tag begannen, und in der Stunde, in der ich
unsichtbar wurde, während der ich nur noch von Witterungen
geleitet war, deren Signale mein Hirn nicht mehr streiften, deren Signale mir
von den Sinnen aus sofort in die Gliedmaßen fuhren ... zu jener Halbzeit, in
der ich lernte, mich raunend verständlich zu machen, mit den Toten und Verbannten
zu denken, mit den wesenlosen Dingen, mit den Erden, mit Gestein und Flüssen,
mit den sprach- und lautlosen Tierwesen, die dem Menschen feind waren. - Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main 1991
Übergang (5) Die Leiche ist unrein, lehrt Zoroaster; sie darf die heiligen Elemente nicht beflecken. So darf der Tote nicht verbrannt oder in den Fluß geworfen werden wie bei den Hindu — — denn er würde Wasser und Feuer verunreinigen. Er darf auch nicht begraben werden wie bei Christen und Mohammedanern, denn er würde die beilige Erde beflecken. Noch darf er in der Luft verwesen — die heilige Luft würde unrein werden. So gibt es nur eines: das tote Wesen muß in ein anderes Wesen übergehen.
Ich höre unten die Eisentüre schlagen. Nun sind die Träger heraus, nur die nackte Leiche liegt allein in der runden Grube. Da hebt es sich aus den Tamarinden : mit schwerfälligem, fast ungeschicktem Schlage fliegen die Geier heran, kreisen herum und senken sich langsam in den Turm. Ein paar Krähen verbinden sich ihnen, sie stehlen die besten Brocken den großen Vögeln unter dem Schnabel weg — —
Dorl unten klingen die eintönigen Gesänge der Trauernden. Aber durch sie hindurch glaubt mein Ohr ein Krächzen zu hören, ein Reißen und Brechen — — mitten heraus aus dem weißen, stillen Turme. Ich weiß nicht, ob es Einbildung ist. Die Zelt verrinnt; nach einer Ewigkeit flattern die satten Vögel auf, setzen sich ringsherum auf die leuchtende Mauer. Und doch waren es kaum fünf kleine Minuten — — so kurze Zeit nur brauchen ihre scharfen Schnäbel, um aus einem Menschen ein Häuflein rings verstreuter Knochen zu machen.
Da ziehen die Parsen vorbei, vom Turme her die breite Straße hinab. Voran zwei Söhne des Mannes, der nun in den Mägen von zwanzig Geiern ruht» von fetten, häßlichen, stinkenden Aasgeiern. Der eine Sohn hebt den Kopf, wirft den Blick zurück zum Turme. Aber es scheint kein gehässiger Blick auf die Vögel, scheint nur eine stumme Frage: Werdet ihr selben Geier auch einmal meine Augen ausgraben und mein Herz hacken?
Die Parsen pflegen die Vögel nicht — die Toten allein sind deren einziger
Fraß. Wenn der nicht genügt, mögen sie sehen, wo sie anderes Futter finden.
Aber manchmal genügen auch die Vögel nicht. Vor ein paar Jahren, als die Pest,
die Bombay nie verläßt, wieder einmal besonders wild sich gebärdete, als täglich
die runden Türen viele Male sich öffneten und schlossen, da war der überreiche
Fraß selbst den gierigen Geiern zu viel. Und die unreinen Leichen drohten die
heilige Luft zu beflecken — — so schaffte man mit vielen Kosten eine Schar neuer
Geier aus dem Pundschab heran — — - Hanns Heinz
Ewers, Indien und Ich. München 1918 (zuerst 1911)
Übergang (6, sanfter) Er
träumte, der hartnäckige Schmerz im Unterleib, den
er verdrängte, damit er nicht die anderen Schmerzen verstärke, die ihn nicht
quälten, höre auf, ihm zuzusetzen. Ohne Widerstand schwand der Schmerz. Er träumte,
die Köchin Eustolia (ach, er hatte sie von seiner Mutter geerbt, die Alte war
zickig) beabsichtige, bei einer Nichte zu wohnen, und
endlich sei es ihm erlaubt, zu essen, wie es Gott gefällt. Das Haus hörte auf,
nach Knoblauch zu riechen. Er träumte von seiner Wiederbegegnung mit Lavinia,
seiner unvergessenen, zu guter Stunde freien Lavinia. Die Hochzeit wurde im
vertrautesten Kreise gefeiert. Er träumte, er stelle eine umfangreiche Anthologie
über die Nutzlosigkeit der literarischen Apologie zusammen. Das Lob der Kritiker
war einhellig. Er träumte, den Treffer der Weihnachtslotterie gezogen zu haben.
Es kostete ihn Mühe, sie zu finden, doch sein Glück war gesichert. Er träumte
Gewinner aller Rennen der nächsten Veranstaltung im Hippodrom von Palermo zu
sein. Aber er haßte Rennen, ein Onkel von ihm hatte Selbstmord begangen, und
so weiter. Er träumte, er erwache. Doch er erwachte
nicht. Seit einigen Minuten war er tot. - Eliseo Diaz, Notas sobre el
azar (1956),
nach (boc)
Übergang (7, schleichender) Patient
sagt: Ich glaube, dass viel mehr Menschen ganz bewusst verrückt werden, als
man annimmt. Es trifft auf gewisse Arten des Wahnsinns bestimmt nicht zu, aber
es gibt Formen mit einem schleichenden Übergang, wo es zu einer solchen Entscheidung
kommen kann. - (raf)
Übergang (8)
Übergang (9)
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