eberflüssigkeit  Wer von der Evolution nur oberflächliche Kenntnisse hat, neigt gewöhnlich zu einer naiven Fortschrittskonzeption: die Säugetiere besaßen »größere Gehirne«, also eine »größere Intelligenz« als die Echsen, und deshalb haben sie diese am Ende verdrängt. Tatsächlich aber haben die Säuger als unbedeutende, kleine Formen über Hunderte von Jahrmillionen hinweg mit den dominierenden Echsen koexistiert. Kürzlich wurde erneut festgestellt, wie sehr die Delphine alle anderen im Meer lebenden Organismen an Intelligenz überragen. Trotzdem haben sie durchaus nicht die Alleinherrschaft über das Wasserreich erobert. Wir neigen dazu, die Bedeutung der Intelligenz zu überschätzen und sie als einen »Wert an sich« zu betrachten.

Ashby führt dazu eine Reihe interessanter Beispiele an. Eine »stumpfsinnige« Ratte, die nicht bereit ist zu lernen, probiert die gefundene Nahrung mit Vorsicht. Eine »scharfsinnige« Ratte, die gelernt hat, daß die Nahrung sich immer zur selben Zeit am selben Ort befindet, hat scheinbar eine größere Überlebenschance. Falls aber diese Nahrung giftig ist, überlebt die »stumpfsinnige« Ratte, die »nichts gelernt hat«, dank ihrem instinktiven Mißtrauen die »scharfsinnige« Ratte, die sich voll-frißt und verendet. Demnach privilegiert nicht jede Umwelt die »Intelligenz«. Ganz allgemein gesprochen, ist die Extrapolation von Erfahrungen (ihr »Transfer«) in der irdischen Umwelt überaus zweckmäßig. Es sind jedoch auch solche Umwelten denkbar, in denen dieses Merkmal zum Nachteil wird. Bekanntlich kann ein erfahrener Feldherr einen weniger erfahrenen schlagen, aber er kann auch gegen einen völligen Stümper verlieren, da dessen Züge »unintelligent«, d. h. völlig unberechenbar sind. Das erstaunliche ist, daß die Evolution, die in allen Bereichen der Informationsübertragung so »sparsam« ist, das menschliche Gehirn hervorbrachte, einen Apparat von hochgradiger »Überflüssigkeit«, denn dieses Gehirn, das heute, im 20. Jahrhundert, mit der Problematik einer machtvollen Zivilisation noch glänzend fertig wird, ist anatomisch und biologisch dasselbe wie das unserer primitiven, »barbarischen« Vorfahren vor hunderttausend Jahren. Diese enorme »prospektive Potenz der Vernunft«, diese »Überflüssigkeit«, die sozusagen seit den frühesten Anfängen der Geschichte für die Errichtung einer Zivilisation vorbereitet war — wie entstand sie aus dem probabilistischen Spiel der Evolution mit zwei Vektoren, dem Mutations- und dem Selektionsdruck?

Die Evolutionslehre kann diese Frage nicht sicher beantworten. Die Erfahrung zeigt, daß das Gehirn eigentlich jedes Tieres sich durch eine hochgradige »Überflüssigkeit« auszeichnet, die sich darin äußert, daß das Tier Aufgaben zu lösen vermag, auf die es im normalen Leben niemals stößt, solange es nicht ein wissenschaftlicher Experimentator vor derartige Aufgaben stellt. Tatsache ist ebenfalls eine allgemeine Zunahme der Hirnmasse: die heutigen Amphibien, Reptilien, Fische, überhaupt sämtliche Vertreter der Tierwelt haben größere Gehirne als ihre paläozoischen und mesozoischen Vorfahren. In diesem Sinne sind während der Evolution sämtliche Tiere »klüger geworden« — und eine ebenso allgemeine Tendenz scheint zu belegen, daß, sofern der Evolutionsprozeß nur lange genug dauert, die Hirnmasse schließlich eine »kritische Größe« überschreiten muß, nach der die lawinenartige Reaktion der Soziogenese einsetzt. - (sum)

Überflüssigkeit (2) 1950 hat Hannah Arendt den Verdacht geäußert, daß die Leichtigkeit, mit der totalitäre Regimes ihre mörderische Logik durchsetzen konnten, mit dem rapiden Zuwachs und mit der Boden- und Heimatlosigkeit von Massen zu tun hat, die im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat »überflüssig« werden. Es ist, als sinke der Wert, den sie ihrem eigenen und dem Leben anderer beimessen, um so rascher, je mehr Menschen zur Welt kommen.

Es fällt schwer, einen solchen Gedanken zu fassen. Aber nicht nur die Bevölkerungs-, Migrations- und Flüchtlingsstatistik zeigt an, wie eng es auf dem Planeten geworden ist. Auch der Alltag führt es vor Augen. Die Arbeits- und Obdachlosigkeit, die Verslumung der Megalopolen, überfüllte Lager und Schiffe demonstrieren jedenfalls dem Unbewußten immer von neuem, daß wir zu viele sind.  - H. M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main 1993

Überflüssigkeit (3) Wir haben sechs Tote in dem Kühlraum gefunden - drei Männer und drei Frauen. Ich habe mit dem Besitzer des Nite Owl gesprochen, und er hat mir gesagt, bei drei der Opfer handele es sich wahrscheinlich um Patty Chesimard und Donna DeLuca, weiblich, Weiße - die Serviererin der Spätschicht und das Kassenmädchen - sowie um Gilbert Escobar, männlich, Mexikaner - er war Koch und Spüljunge. Die anderen drei Opfer - zwei Manner und eine Frau - waren mit ziemlicher Sicherheit Gäste des Lokals. Die Registrierkasse und der Safe waren leer und die Taschen und Handtaschen der Opfer ebenfalls ausgeleert, so daß wir davon ausgehen, daß es sich um einen Raubüberfall gehandelt hat. Die Jungs von der Spurensicherung sind noch beschäftigt - bis jetzt haben sie nichts gefunden außer Abdrücken von Gummihandschuhen auf der Registrierkasse und an der Tür zum Kühlraum. Der genaue Zeitpunkt des Todes der Opfer ist nicht bekannt, aber aufgrund der geringen Zahl der Gäste und eines weiteren Anhaltspunktes gehen wir davon aus, daß die Morde gegen drei Uhr morgens stattgefunden haben. Im Kühlraum wurden insgesamt fünfundvierzig leere Schrothülsen der Marke Remington, Kaliber 12, gefunden. Das deutet darauf hin, daß es drei Männer mit fünfschüssigen Vorderschaftrepetiergewehren waren, die jeweils zweimal nachgeladen wurden. Ich brauche nicht zu betonen, daß vierzig dieser Schüsse mehr als überflüssig waren. - James Ellroy, L.A. Confidential. Berlin 2006 (zuerst 2000)

Überflüssigkeit (4) In seiner Ablehnung von Bildung und Wissenschaft wertete Rousseau die Erfindung der Druckerpresse als eine der großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte und pries den Kalifen Omar, der der Legende nach auf die Frage, was man nach der Eroberung mit der Bibliothek von Alexandria machen soll, sagte, dass man sie in jedem Falle anstecken müsse, denn wenn die Bücher darin etwas enthalten, was nicht im Koran steht, wären sie schädlich, und wenn sie das enthalten, was im Koran steht, wären sie überflüssig. - Peter Mühlbauer, Telepolis vom 23.08.2011

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