Ueberbrückung  Was genau sind eigentlich Wahnideen? Daß ein großer Blumenkohl zu einem spricht, daß man nach dem Verzehr eines Schokoriegels mit Kokosgeschmack einen Panther auf der Spitze seines ausgestreckten Zeigefingers sieht, daß ein Wirbelwind in der rundum gekachelten Küche erscheint oder ein Flaschengeist, beide nur, um alles, was sie berühren, zum Glänzen zu bringen, das sind, auch wenn man es auf den ersten Blick vielleicht meinen möchte, keine Wahnideen, sondern die einfachen Metaphern der Werbung. Diese Sprache vermag jedes Kind zu decodieren. Die gezeigten Bilder bedeuten nicht, daß das, was sie zeigen, irgendeiner Form von Realität entspricht. Vielmehr bedeuten diese Bilder absolut nichts. Sie sind noch nicht einmal mehr eine obskure Aneinanderreihung von Archetypen, Reflexen und Auslösern für die sieben Todsünden. Vielmehr überbrücken sie nur ein Stück Leere. Dieses Stück Leere hat eine Firma für sehr viel Geld gemietet. Sie hat es gemietet, damit am Ende dieses Stückchens Leere der Name dieser Firma erscheint. Da nun Leere aber ein dem Menschen unerträglicher Zustand ist, überbrückt man sie. Diese Überbrückung ist so etwas ähnliches wie Däumchendrehen. Nur bunter und schneller. Dennoch ist sie deswegen nicht weniger leer.

Manchmal scheinen sich kleine Fehler bei der Überbrückung dieser Leere einzuschleichen. War da nicht eben eine Mutter mit einem behinderten Kind? Hatte da nicht jemand HIV auf seinen Hintern tätowiert? Und heißt nicht wenigstens das dann etwas? Nein, auch das heißt nichts. Die Leere ist immer leer. Sie ist vollkommen leer. Sie ist das unbewegende Unbewegte. Sie muß völlig leer sein, um sich einst zurückziehen zu können. Denn erst wenn sich die Leere selbst leert, kann der Name des Produkts in sie strömen, auf daß er ewig leuchte.

Das Verhalten der Leere ist so obskur, daß oft selbst die größten Geister an ihr scheitern. Sie nennen die Leere Nichts und setzen sie mit dem reinen Sein gleich. Obskur, aber dennoch kein abwegiger Gedanke. Doch hat das alles nichts mit Wahnideen zu tun. Umgekehrt eher.

Die Wahnidee fängt wahrscheinlich dort an, wo man der Leere einen Sinn zuordnet. Der Blumenkohl meint mich.   - (blue)

Überbrückung (2)   An der Haustüre gewahrte ich meinen Nachbarn, Herrn Kloßen, der sich in eigenartiger Weise an seinem Briefkasten zu schaffen machte, nämlich von hinten. Herr Kloßen hatte dabei wie immer seinen dunklen Anzug mit Einstecktüchlein, ein weißes Nyitest-Hemd und sogar eine Fliege an, ein an sich hervorragender Aufzug für einen Arbeitslosen, der ihn aber seltsamerweise zu einem ganz besonderen Flair von Verlottertheit verdammte und absolut vertrauenzerstörend wirkte. Ich begrüßte Herrn Kloßen und fragte ihn, was er da treibe. Nach einigen unscharfen Antworten stellte sich heraus, daß Herr Kloßen mit einem länglichen Magneten, den er in der Schlosserei gegenüber ausgeborgt hatte, von hinten in seinen Briefkastenschlitz stocherte, um auf diese Art seinen eigenen Briefkastenschlüssel herauszufischen, der aus einem sehr dunklen und ewig langen und komplizierten Grunde in Kloßens Briefkasten lag. Er brauche aber diesen Briefkastenschlüssel, denn im Briefkasten liege eine Zahlungsanweisung über »100 bzw. 70 Mark«, die Herr Kloßen zusammen mit Herrn Rohleder in der Vorwoche im Lotto gewonnen hätte.

Jetzt erzählte ich Herrn Kloßen, daß mich Herr Rohleder heute früh schon aufgesucht und 30 Mark verlangt hätte. Meines Wissens, sagte ich streng, hatte aber nicht ich bei ihm, Kloßen, 50 Mark Schulden, sondern umgekehrt er Kloßen, bei mir. Bzw. 36,50 Mark. Und daß ich dem Rohleder nun zusätzlich 20 Mark überreicht hatte.

Herr Kloßen machte eine Reihe fahriger und wohl abwehrender Armbewegungen und hatte dann die Situation wieder im Griff. Der Rohleder, erklärte Herr Kloßen mit seiner eigentümlich breiigen, qualligen, ja gewissermaßen ranzigen Stimme, der Rohleder habe wieder einmal am Telefon alles falsch verstanden. Er, Kloßen, habe ihm nämlich deutlich gesagt, Rohleder solle sich von mir nochmals »50 bzw. 35 Mark« borgen, dann mache er, Kloßen, »alles mit dir klar«. Wir seien also jetzt 36,50 Mark plus 20 Mark ist 56,50 Mark - und deswegen müsse er ja gerade in den Rriefkasten hinein, um mir das Geld sofort zurückzugeben.

Nun bohrte Herr Kloßen wieder energisch mit seinem Magneten in dem Schlitz herum - und tatsächlich, plötzlich hing der Briefkastenschlüssel dran. Schnell öffnete nun damit Herr Klößen den Briefkasten von vorne, aber es war keine Zahlungsanweisung drinnen, sondern nur eine Werbepackung Gemüsesuppe, sowie ein Brief des Hausherrn Kaufhold, den Klößen sofort erbrach, worauf er »Scheiße« und »diese blöde Sau« sagte. Ich fragte Herrn Kloßen, was denn nun wieder sei. »Diese blöde Sau, der Kaufhold, der will da die beiden letzten Monatsmieten kassieren, sonst kündigt er mir.« Aber dieser Herr werde sich noch wundern, »wenn ich mit Sack und Pack vor's Gericht ziehe.« Er, Kloßen, habe Kaufhold einst ausdrücklich erklärt, daß er demnächst 4700 Mark Kredit aus Stuttgart bekomme und damit ein halbes Jahr Wohnungsmiete im voraus bezahle, was als Zins dem Kaufhold wieder zugute komme, so daß der Zinsausfall der zwei ersten Monatsmieten wieder mehr als ausgeglichen sei. Es sei dies nur eine »Überbrückungszeit«, habe er, Klößen, damals Kaufhold erklärt, und die Hausverwalterin sei als Zeuge dabeigestanden.

Nun sei, fuhr Kloßen mit einer Miene und einer Stimme, als habe er etwas furchtbar Sclilechtschmeckendes im Mund, fort, die Situation vorerst die, daß zwar der Großkredit »100prozentig gesichert« sei, »da brauchst du überhaupt nichts bei denken« (warum sagte er das?), aber nach dem Ausbleiben des Lottogewinns habe er, Klßen  hn Augenblick leider nur mehr 2,55 Mark in der Tasche. Das mache aber überhaupt nichts aus, denn er gehe dann morgen aufs Finanzamt und lasse sich seinen Lohnsteuerjahresausgleich  vorzeitig  zurückerstatten,  das  gehe »ohne weiteres perfekt«. Nur bis morgen sei allerdings die Situation noch etwas schwer zu überbrücken, sagte Herr Kloßen und schien nachzudenken. Ich wollte ihm gerade vorschlagen, doch zu Herrn Rohleder zu gehen, der habe 20 Mark von mir, das sollen sie sich teilen, dann hätte jeder zehn Mark und könne sich davon ein einigermaßen bequemes Leben machen, - aber Herr Klößen hatte schon einen besseren Vorschlag ausgegoren. »Paß auf«, sagte er, »ich schulde dir jetzt 56,50 Mark, jetzt gibst du mir noch 20 Mark, dann sind wir 76,50 Mark. Davon gebe ich dir morgen vom Lotto 70 Mark, dann sind wir 6,50 Mark, die kriegst du dann übermorgen vom Finanzamt,  das geht alles klar.«

Ich überreichte Herrn Klößen die erwünschten 20 Mark, da schlug er mir vor, mit ihm »in die Kneipe um die Ecke« zu gehen, »ich geb dir ein Bier aus.« - Eckhard Henscheid, Die Vollidioten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972. Mit Zeichnungen der Originalschauplätze von F.K. Waechter. Frankfurt am Main 1979

Überbrückung (3)   Nur in sehr seltenen Fällen habe ich Escort-Dienste in Anspruch genommen, meistens in den Sommermonaten, um gewissermaßen den Übergang von einer Studentin zur nächsten zu überbrücken; alles in allem wurde ich zufriedengestellt. Eine kurze Internetrecherche zeigte mir, dass die neue islamische Regierung deren Betrieb in keiner Weise beeinträchtigt hatte. Ich zögerte einige Wochen lang, sah mir zahlreiche Profile an, druckte einige davon aus, um sie noch einmal zu lesen (mit Escort-Websites verhält es sich ein wenig wie mit Restaurantführern, in denen die bemerkenswert poetische Beschreibung von Gerichten auf der Karte sehr viel größeren Genuss verspricht, als einem am Ende bereitet wird). Schließlich entschied ich mich für Nadiamaghrebina; angesichts der politischen Gesamtsituation reizte es mich sehr, eine Muslima auszuwählen.

Tatsächlich hatte sich Nadia, die aus Tunesien stammte, dem Sog der ReIslamisierung, der die jungen Leute ihrer Generation voll erfasst hatte, komplett entzogen. Als Tochter eines Radiologen hatte sie von Kindheit an in den guten Vierteln gelebt und nie in Betracht gezogen, einen Schleier zu tragen. Sie war im zweiten Jahr ihres Masterstudiums in Moderner Literatur und hätte eine meiner ehemaligen Studentinnen sein können, aber sie hatte immer an der Université Paris Diderot studiert. Was das Sexuelle anging, übte sie ihr Metier sehr professionell aus; allerdings wechselte sie die Positionen auf ziemlich mechanische Art und Weise, und man merkte, dass sie nicht recht bei der Sache war. Nur beim Analverkehr wurde sie ein wenig lebhafter; sie hatte einen kleinen, ziemlich engen Arsch, doch aus mir unerfindlichen Gründen empfand ich überhaupt keine Lust - ich hätte sie stundenlang unermüdlich und freudlos in den Arsch ficken können. Als sie leise, stöhnende Laute auszustoßen begann, spürte ich, dass  sie Angst bekam, Lust zu empfinden - und in der Folge möglicherweise Gefühle zu entwickeln; schnell wendete sie sich mir zu, um mich in ihrem Mund zum Ende zu bringen.

Bevor ich ging, redeten wir auf ihrem Sofa von La Maison du Convertible noch ein paar Minuten miteinander, um die Stunde vollzumachen, für die ich bezahlt hatte. Sie war zwar recht intelligent, aber ziemlich konventionell.   - Michel Houellebecq, Die Unterwerfung. Köln 2015

 

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