eberbegabung   Bella war auch noch häßlich - das unansehnlichste Mädchen in der ganzen Schule. Ihr Kopf war zu groß für den Körper, ihre niedrige Stirn schien eingesunken, ihre Augen waren schwarz und hervorstehend - Kalbsaugen -, ihre Nase war gebogen; ihr Busen war üppig, ihre Hüften breit und ihre Beine krumm. Die Mutter gab sich Mühe, das Mädchen anständig anzuziehen, aber was immer Bella trug, sah lächerlich aus. Die anderen Mädchen nannten sie das »Monstrum«.

Mark Meitels war sich klar darüber, daß es seine Pflicht war, Bella die Grundsätze der Mathematik wieder und wieder zu erklären. Er begann mit den Axiomen: Zehn Groschen zu zehn Groschen addiert, ergibt zwanzig Groschen. Wird jeder Einheit von zehn Groschen eine gleiche Zahl hinzugefügt, sind die Ergebnisse die gleichen. Wird eine gleiche Zahl abgezogen, so sind die Ergebnisse immer noch gleich... Aber obgleich definitionsgemäß Axiome selbstverständliche Wahrheiten sind, konnte Bella sie doch nicht verstehen. Sie öffnete ihre dicken Lippen, ließ zwei Reihen unregelmäßiger Zähne sehen, und lächelte in schuldbewußter Angst, mit der Unterwürfigkeit eines Tieres, das versucht, menschliche Begriffe zu verstehen.

Aber auf einem Gebiet zumindest war Bella überbegabt - auf dem der Gefühle. Sie saß auf ihrer Bank und ließ den Blick ihrer großen schwarzen Augen nicht von Mark. Sie drückten Liebe und Verehrung aus, wie man es manchmal in Hundeaugen sieht. Sie folgte Meitels mit ihrem Blick, und ihre Lippen wiederholten jedes seiner Worte. Wenn Mark sie aufrief, wurde sie blaß und begann zu zittern. In den seltenen Fällen, in denen er sie an die Tafel rief, kam sie mit schwankenden Schritten näher, und Mark befürchtete, daß sie ohnmächtig werden könnte.  - Isaac Bashevis Singer, Die Hexe. In: I.B.S., Leidenschaften. Geschichten aus der neuen und der alten Welt. München 1993. (zuerst 1975)

 

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