chronie Nach der Verkündung des Urteils hatte bei den Jüngern des Propheten allseits Jubel geherrscht. Sie hatten ihn verloren gegeben. Nun kehrte er zu ihnen zurück, schuldlos gesprochen von dem Stellvertreter des Cäsars persönlich. Das war der an ein Wunder grenzende Triumph der Gerechtigkeit. Endlich einmal hatte die Macht die Partei des Gerechten und Verfolgten ergriffen. Indessen war die Tat des Pilatus dem Rabbiner schon bald abträglich. Vielleicht erinnerten sich die eifrigsten seiner Getreuen daran, ein wenig das Gerücht ausgestreut zu haben, daß Erzengel mit Flammenschwertern kommen würden, um ihn am Kreuze zu befreien. Die Erzengel hatten keine Gelegenheit dazu gehabt. Nicht, daß die Jünger bedauert hätten, daß der Meister nicht gekreuzigt worden war. Gleichwohl hatten sie das Gefühl, daß das Einschreiten himmlischer Heerscharen eindrucksvoller gewesen wäre als der Beschluß eines Beamten. Man hätte manchmal meinen können, sie seien unzufrieden darüber, daß der Sohn Gottes sein Leben der Festigkeit eines römischen Verwalters verdankte. Das erschien gewissermaßen unvereinbar mit der göttlichen Natur.
Der Messias setzte sein Leben als Prediger erfolgreich fort und starb in
vorgerücktem Alter. Er genoß einen großen Ruf als Heiliger, und noch lange pilgerte
man zu seiner Grabstätte. Jedoch, um eines Mannes willen, der es gegen alle
Anfechtung vermochte, standhaft zu sein, fand eine Christianisierung nicht statt.
Mit Ausnahme der Verbannung und des Selbstmordes von Pilatus traf keines der
von Marduk vorhergesagten Ereignisse ein. Die Geschichte, bis auf diesen Punkt,
verlief anders. - Roger Caillois, Pontius
Pilatus. Ein Bericht. Berlin 1993 (zuerst 1961)
|
||
|
||