Ueberraschung, gelungene  Roucart stieg eine enge, feuchte Senke hinunter,  die mit einer dicken Schicht welken, verfaulten Laubs bedeckt war. Er hatte etwas Mühe beim Hinunterklettern, denn sein fetter Bauch zog ihn nach unten. Er mußte mit den Hacken bremsen, dabei warf er den Kopf nach hinten.  Sein Kopf hatte die Form einer Birne, nach oben hin spitz zulaufend; auf seinem kahlen roten Schädel saß ein grünbraun gemustertes Käppi. Er hatte ein rotes Gesicht, strahlend blaue Augen und weiße Augenlider. In den großen Nasenlöchern seiner kurzen Stupsnase wuchsen weiße Härchen. Am Fuß der Vertiefung angekommen, hielt er inne, um Luft zu holen. Er stellte sein Gewehr gegen einen Baumstamm, an den er sich mit dem Rücken anlehnte. Mechanisch fummelte er in seiner Brusttasche nach einer Zigarette, dann fiel ihm wieder ein, daß er vor drei Wochen das Rauchen aufgegeben hatte, und er ließ seine Hand herabsinken. Es war ein Jammer. Dann, keine hundert Meter entfernt, fiel plötzlich ein Schuß, gefolgt vom kurzen Aufbellen eines schlecht abgerichteten Hundes. Roucart hatte keinen Hund. Ohne seinen fetten Hintern von dem Baumstamm zu lösen, streckte er den Oberkörper nach vorn und spitzte mit leicht geöffnetem Mund die Ohren in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war. Er hörte aber nichts, nur das Rascheln der Blätter und dann, wie jemand von hinten näher kam. Schwerfällig drehte er den Kopf und sah die Frau, die reglos am Fuße des Abhangs stand, vier Schritte von ihm entfernt. Es war eine schlanke Frau; sie trug einen hellbraunen, langen Lackmantel, Gummistiefel an den Füßen und einen runden Regenhut auf dem langen, braunen Haar. Sie hatte eine Flinte Kaliber 16 geschultert.

»Ich werd' verrückt. Das gibt's ja nicht! Melanie Horst!« rief Roucart, stieß sich blitzschnell mit den Hinterbacken vom Stamm ab und zog den Bauch ein. »Das ist mir 'ne gelungene Überraschung! Aber wie ist das möglich? Ich dachte, Sie wollten für immer weg, mein liebes Kind . . .«

Sie zeigte den Ansatz eines Lächelns. Sie war vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt. Sie hatte braune Augen und feine Gesichtszüge. Ihr leichtes Lächeln ließ nur wenig von ihren kleinen, regelmäßigen Zähnen sehen. Roucart ging auf sie zu und nannte sie mit väterlich wohlwollender Stimme sein liebes Kind, während er mit dem Blick seiner großen blauen Augen pausenlos die schlanke Figur der jungen Frau abtastete. Er gab sich hoch erstaunt, hier auf sie zu treffen, denn erstens gehe sie ja nie auf die Jagd, und außerdem habe sie sich doch gestern  nachmittag von allen verabschiedet und sei mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren.

»Daß Sie noch da sind! Die Überraschung ist echt gelungen!« tönte er. Sie nahm ihre Flinte und richtete sie auf ihn. Er hatte noch nicht aufgehört zu lächeln, da jagte sie ihm den Inhalt der beiden Läufe in den Bauch.

Dann lag er ausgestreckt am Abhang, mit dem Rücken auf dem verfaulten Laub. Sein Körper war mit Löchern übersät; infolge des Aufpralls war ihm die Khakijacke bis ans Kinn hochgerutscht, und sein Karohemd hing zur Hälfte aus der Hose. Roucarts kahler Schädel war herabgesunken und zur Seite gedreht, die Wange lag im Schlamm, Augen und Mund standen offen, seine Mütze  lag  verkehrt  herum  auf  dem  Boden. Glänzender Speichel drang aus dem Mund, die Augenlider zuckten leicht, dann war der Mann tot. In der Ferne ertönten dumpf drei Schüsse. Die junge Frau ging weg.  - Jean-Patrick Manchette, Herz aus Blei. Bergisch Gladbach 1993 (Bastei Lübbe Schwarze serie, zuerst 1977)

Überraschung Gelingen


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