urmbau Der Turm zu Babel steht als letztes Bild vor dem eigentlichen Beginn der Welt.
Stillmans Kommentare füllten viele Seiten. Er begann mit einer historischen
Zusammenfassung der verschiedenen exegetischen Überlieferungen bezüglich der
Geschichte, erläuterte die zahlreichen Fehldeutungen, die um sie herum entstanden
waren, und schloß mit einer lang atmigen Aufzählung von Legenden aus der Haggada
(einem Kompendium der rabbinischen Deutungen aller nichtgesetzlichen Bereiche).
Es wurde allgemein angenommen, schrieb Stillman, daß der Turm im Jahre 1996
nach der Schöpfung gebaut worden war, knapp 340 Jahre nach der Sintflut, «damit
wir nicht zerstreut werden in alle Länder». Gottes Strafe war eine Antwort auf
diesen Wunsch, der einem früher in der Genesis ausgesprochenen Gebot widersprach:
«Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde.» Indem er den Turm zerstörte,
verurteilte Gott den Menschen dazu, diesem Befehl zu gehorchen. Nach einer anderen
Lesart war der Turm jedoch eine Herausforderung Gottes. Nimrod,
der erste Herrscher über die ganze Erde, wurde als Baumeister des Turmes bezeichnet:
Babel sollte ein Schrein sein, der das Allumfassende seiner Macht symbolisierte.
Dies war die prometheische Auffassung der Geschichte, und sie stützte sich auf
die Sätze «des Spitze bis an den Himmel reiche» und «daß wir uns einen Namen
machen». Der Turmbau wurde zur zwanghaften, überwältigenden Leidenschaft der
Menschheit, die zuletzt wichtiger war als das Leben selbst. Ziegel wurden kostbarer
als Menschen. Arbeiterinnen hielten nicht einmal inne, um ihre Kinder zu gebären;
sie banden das Neugeborene in ihre Schürze und arbeiteten sogleich weiter. Offensichtlich
waren drei verschiedene Gruppen am Bau beteiligt: die im Himmel wohnen wollten,
die Krieg gegen Gott führen wollten und die Götzenbilder verehren wollten. Gleichzeitig
waren sie vereint in ihren Anstrengungen - «Es hatte aber alle Welt einerlei
Zunge und Sprache» -, und die latente Macht einer vereinten Menschheit erzürnte
Gott. «Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache
unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen
von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.» Diese Rede ist ein bewußtes
Echo der Worte, die Gott sprach, als er Adam und Eva aus dem Garten vertrieb:
«Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun
aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens
und esse und lebe ewiglich. Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden...»
Nach wieder einer anderen Lesart war die Geschichte nur als Erklärung für die
Verschiedenheit der Völker und Sprachen gedacht. Denn wie sollte man die großen
Unterschiede zwischen den Kulturen begreifen, wenn alle Menschen von Noah und
seinen Söhnen abstammten? Einer anderen, ähnlichen Deutung zufolge war die Geschichte
eine Erklärung für die Existenz von Heidentum und Götzendienst - denn vor ihr
wurden alle Menschen als Monotheisten in ihrem Glauben dargestellt. Was den
Turm selbst betrifft, so versank der Legende nach ein Drittel des Bauwerks in
der Erde, ein Drittel wurde durch Feuer zerstört, und ein Drittel blieb stehen.
Gott griff ihn auf zweierlei Art an, um den Menschen davon zu überzeugen, daß
die Zerstörung eine göttliche Strafe und nicht ein Werk des Zufalls war. Der
Teil, der stehen blieb, war jedoch immer noch so hoch, daß eine von oben betrachtete
Palme nicht größer als eine Heuschrecke war. Es hieß auch, daß ein Mensch drei
Tage lang im Schatten des Turms gehen konnte, ohne ihn je zu verlassen. Schließlich
glaubte man, daß jeder, der die Ruine des Turms betrachtete, alles vergaß, was
er jemals wußte. - Paul Auster, Die Stadt aus Glas. in: P. A., Die New-York-Trilogie.
Reinbek bei Hamburg 1991
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