Túpac-Amaru-Zustand  Alles änderte sich, als ich zur Ecke Carlos Pellegrini/Rivadavia kam, wo das Gebäude der Banco de la Provincia aufragt. Kennt jemand den Túpac-Amaru-Zustand? Er manifestiert sich in einem Zwiespalt zwischen der Seele und dem Körper, in dem Verlangen, etwas Bestimmtes zu tun und zugleich das Gegenteil davon, nach rechts zu gehen und zugleich nach links. So hatte ich an der Ecke des Bankgebäudes vor, bis zum Platz munter weiterzugehen, diesem schönen und großen Platz von Chivilcoy, während die seltsame Anziehung, die mich schon von Cornelius und Petrus fortgelockt hatte, meine Schritte unwiderstehlich in die Privadavia-Straße lenkte, die sich hoffnungslos vom Platz entfernt. Ich mußte diesem von der Sonne verlassenen, dunklen Weg folgen, mußte die Bäume und die einladenden Bänke des Platzes hinter mir lassen. Einen Augenblick lang weigerte ich mich, doch die Anziehungskraft machte alles Sträuben zunichte; ich glaube, ich zuckte die Achseln — eine Geste, die meine Freundinnen zu Recht an mir tadeln — und ließ mich fortziehen, spürte wieder die milde Luft des Nachmittags und sah, wie sich die Bordsteine in der Ferne beim Dämmerlicht zart violett färbten.

›Sieh an, das Haus von Dona Emilia! Und wenn ich hineinginge und ihr guten Tag sagte?‹ Denn Dona Emilia ist eine meiner wenigen Freundinnen in Chivilcoy. Sie erteilt an der Schule Sprachunterricht. Sie ist in dem Alter, wo die mütterlichen Gefühle stärker sind als jede temporäre Leidenschaft, und sie mag mich sehr, vielleicht weil ich ein sympathisches Naturell habe; einmal hat sie mir gezeigt, wo sie wohnt, und eine Einladung zum Tee ausgesprochen, der ich damals nicht gefolgt bin. Aber heute nachmittag ... Wie ich das dachte, drückte mein Finger bereits die Klingel, aus dem zweiten Patio war ein heftiges und schrilles Läuten zu hören, und ich begann an der Tür zu überlegen, was ich Dona Emilia sagen sollte, um meinen ungewohnten Besuch zu rechtfertigen. Ihr erklären, daß eine Túpac-Amaru-Kraft... unmöglich! Die einzige Lösung war die bürgerliche: daß ich gerade hier vorbeikam und mir einfiel, daß etc. Unterdessen wartete ich weiter, doch niemand kam.

Ich drückte noch einmal die Klingel, die man überall, sogar auf dem Bürgersteig gegenüber hören mußte. Dann, nachdem ich noch etwas gewartet hatte, tat ich etwas Unerhörtes: ich ging ganz unbefangen durch den Flur bis ins Wohnzimmer, so als wäre ich hier zu Hause. So als...

Aber ich war hier zu Haus. Ich stellte es fest, ohne besonders überrascht zu sein, verspürte gerade nur ein leichtes Kribbeln am Haaransatz. Das Wohnzimmer war genauso möbliert wie das von Dona Micaela; und die linke Tür, die ohne Zweifel in den Salon führte, war meine Tür, die Tür zu meinem Zimmer.

Ich hielt vor dieser Tür inne, mir blieb gerade noch soviel Handlungsfreiheit, um gegebenenfalls sofort die Flucht zu ergreifen; da hörte ich es im Salon husten.

Es geschah das gleiche wie bei der Klingel; meine Hand kam meinem Willen zuvor. Die mir vertraute Klinke gab unter dem Druck nach, und ich gelangte in den Salon. Aber es war kein Salon, sondern mein Arbeitszimmer. In jeder Hinsicht mein Arbeitszimmer. In solchem Maße, daß, als Gipfel der Perfektion, ich selbst dort am Schreibtisch saß und in der Luther-Bibel las, die auf ihrem hölzernen Lesepult ruhte. Ich in der alten blaugestreiften Joppe und in den Pantoffeln, die meine Mutter mir diesen Herbst geschenkt hat.  - Julio Cortázar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt am Main 1998

 

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