- Heinrich von Kleist,
Wassermänn
er
und
Sirene
n
Trieb (2) Entweder diese beiden lächerlichen Vögel
waren wirklich da, und - ganz gleich, woher sie kommen, wieviele es von ihnen
gibt und was sie uns antun könnten -, das würde bedeuten daß Dinge möglich sind,
die unseres Wissens nicht möglich sein dürften. Mit andren Worten: Es würde
sich dann nicht um Dinge handeln, über die wir lediglich jetzt noch nicht klar
sehen, die wir aber zweifellos bei fortschreitender Wissenschaft
morgen oder übermorgen erforscht haben werden, sondern um Unbekanntes, .das
überhaupt niemals zur Berechnung stand noch stehen wird. Und wie diese Vögel
kann es jederzeit über unser Dasein hereinbrechen, uns aber bleibt nur übrig
zuzugeben, daß unser Wissen gleich Null und völlig unnütz ist. Oder aber: Diese
Vögel waren gar nicht da, alle Menschen aber bildeten sich ein, sie gesehen
zu haben. In der Wirkung kommt es beinahe auf das gleiche hinaus; vielleicht
ist das Zweite noch etwas schlimmer. Es würde nämlich bedeuten, daß wir uns
weder auf uns selbst noch auf das, was uns umgibt, ich meine auf das, was wir
mit der Kraft unseres Verstandes erschufen und zu beherrschen glauben, verlassen
dürfen; denn wenn wir unsere Einbildungen für wirklich halten, entwerten wir
alles, was uns bisher als Wirklichkeit galt. Um noch
deutlicher zu sprechen: Wir hätten dann kaum mehr das Recht, uns Menschen zu
nennen in dem Sinne, wie wir es bisher verstanden, sondern wären stattdessen
Wesen, die sich heute in dies und morgen in das verwandeln
könnten, je nachdem es ihrem Einbildungstrieb beliebt. Wesen ist sogar schon
zuviel gesagt; wir wären nur wechselnde Erscheinungsformen dieses grenzenlosen
Triebes. - Hans Erich Nossack, Nekyia. Bericht
eines Überlebenden. Frankfurt am Main 1961 (BS 72, zuerst 1947)
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