Tribunal  Noch einmal erlebe ich alle, wie sie mir lieb, verhaßt, gleichgültig und (aus der Sicht des Publikums) vorstellbar sind. Etwa Sieglinde Huntscha: immer in Jeans und mit abgelederter Jacke. Man könnte ihre Figur durchtrainiert nennen, wüßte ich nicht, daß sie Plattfüße hat; weshalb die Anklägerin beim Plädoyer so gut wie nie auf- und abgeht, sondern zumeist aus dem Stand (und leicht sächselnd) spricht: »Nachdem auch im Fall Stubbe das schuldhafte Verhalten des Butt unbestritten sein sollte . . .«

Gleichfalls schlank, doch mit mammiger Brust, sitzt die Pflichtverteidigerin in bestickten Hemdblusen, die sie gern mit Schleifen geschlossen hält. Obgleich Bettina von Carnow beim Sitzen einen Buckel macht und nie weiß, wie sie den zu langen Hals wenden soll, zeigt sie, sobald sie steht oder Gänge wagt, die Ausmaße eines Mannequins. Ganz anders ragt im Beisitz die Sitzriesin Helga Paasch. In ihr haben wir eine Person, Mitte Vierzig, die, unbekümmert um ihr Gerüst, Jackenkleider trägt, die das Viereckige ihrer Natur überbetonen. Sobald sie spricht - »Mann, seid ihr umständlich!« - fegt sie Unsichtbares vom Tisch. Gleich straff, wenn auch von zierlichem Maß und mädchenhaft kleingeblümt gekleidet, sitzt, wie zum Ausrufzcichen gerichtet, Griselde Dubertin. Gelegentlich in Hosenröcken. Die Schärfe ihrer Zwischenrufe. Die Bitternis ihrer Neben-bemcrkungen. Immer auf dem Sprung, immer anderer Meinung und übertrieben im Ausdruck, wirkt sie als Gegensatz zu Therese Osslieb, deren gemütvolles Phlegma sich sogar unausgesprochen mitteilt und plötzliche Erregungen (Streit mit dem Beirat) glättet.

Die Osslieb trägt Schürzenkleider, Wickelröcke und urgroßmütterlichen Nachlaß mit Spitzenbesatz. Dabei hängt sie ähnlich tragisch durch wie ihre Freundin Ruth Simoneit, die, wenn sie nicht angetrunken auf der Bühne rumtorkelt und alles (auch sich) zum Teufel wünscht, gut anzusehen ist in ihrer griffig gedrechselten Schönheit, an der außer Bernstein immer zu viel asiatischer, afrikanischer, indianischer oder sonstwie exotischer Schmuck baumelt. Neben ihr hat es die Sozialarbeiterin Erika Nöttke schwer. Verklemmt wie sie ist, hängt an ihr Kummerspeck, der in der Regel grau in grau und wenig kleidsam in Pullovern wölkt und Faltenröcke dehnt: Obgleich sie die Jüngste im Beisitz ist, spricht aus ihr dennoch Frau Sorge. Ihr Berufsjargon -»Resozialisierte Integration« - kann ihren Tonfall nicht dringlicher machen: sie piepst. Ihr hört niemand zu. Ihre zu langen Tiraden gehen in Zwischenfragen (Griselde Dubertin) oder am Geraunze der Paasch oder in anhaltender Unruhe des Publikums unter, obgleich Erika Nöttke mehr als jede andere Beisitzerin zur Sache zu sprechen bemüht ist. Ganz anders Ulla Witzlaff, der zu jeder Begebenheit historischer Herkunft private Beispiele einfallen, die immer Zuhörer finden; »Bei uns wohnte auf einer kleinen Insel, die heißt Oehe, eine alte Frau mit ihren Schafen . . .« Ulla ist die Schönste, auch wenn sie nirgendwo hübsch ist. Man kann sich in ihr Haar vergucken. Meistens kommt sie in langen fluddrigen Röcken und manchmal, unvermittelt, als Dame im schwarzen Abendkleid, was einem Auftritt gleicht. Das zugelassene Publikum klatscht. Und die Vorsitzende des Tribunals muß (wenn auch unmerklich) ihre Autorität beweisen.

Frau Dr. Schönherr soll Mitte fünfzig sein. Doch weil sich die anerkannte Ethnologin wie zeitlos kleidet (sportlich-dezent oder in Schottenmuster), bleibt ihr Alter wie ausgespart. Von ihr geht Ruhe aus. Nie ergreift sie eindeutig Partei. Ironisch vieldeutig bleibt sie selbst dann, wenn sie zum Urteil kommt. Alle Beisitzerinnen - ob sie der Buttpartei, ob sie der Opposition angehören - meinen, Ursula Schönherr auf ihrer Seite zu haben. Sogar der revolutionäre Beirat gibt Ruhe, wenn sie die Forderung nach weiblicher Solidarität zum Gebot erhebt. Sie hat das feministische Tribunal während neun Monaten über alle Stolperdrähte geführt und hat sich in Fürsorge dergestalt erschöpft, daß ich in der immer adretten Ursula Schönherr meine jungsteinzeitliche Aua vermuten darf, wie sie in meinen Träumen querliegt.    - (but)

 

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