raumgier EIN traumgieriger Herr träumte so viel, daß es in dem Haus, in dem er wohnte, niemand anderem mehr gelang, etwas zu träumen, es sei denn während der Ferien, wenn der Träumer ans Meer oder in die Berge fuhr. Das war eine aufreizende und unmögliche Situation, und die Bewohner des Hauses — alles Leute aus gehobenen Schichten: Dozenten, Herzöge, Wohnungsbesitzer und ein internationaler Mörder — erhoben höflich Einspruch; der Herr antwortete nicht höflich und das Problem begann sich zu verschärfen. Niemand im Haus träumte mehr etwas, und auch in den Nachbarhäusem wurde nur noch wenig, klein und in schwarz-weiß geträumt, denn der Herr träumte nur bunt und machte  Experimente mit drei Dimensionen. Der Streitfall kam vor Gericht, wo entschieden wurde, daß der Herr unrechtmäßig die Träume anderer Leute benutze, und daß er damit aufhören müsse, weil er gegen die Regeln der guten Nachbarschaft verstoße. Aber es ist natürlich nicht leicht, jemanden zu überreden, Träume zurückzugeben oder sich fremder Träume erst gar nicht zu bemächtigen. Der Herr träumte auch weiterhin alle Träume des Hauses, und nur dem internationalen Mörder gelang es ab und zu, einen dummen kleinen Traum zu träumen.

Aber der gierige Träumer merkte bald, daß etwas anders geworden war; da er sämtliche Träume seiner Mitbewohner träumte, und da alle Mitbewohner gegen ihn aufgebracht waren und — wenn sie gekonnt hätten — am liebsten Träume geträumt hätten, in denen er eine negative Rolle spielte, begann er jetzt Träume zu träumen, in denen außer ihm selbst noch ein anderes Selbst zugegen war — widerwärtig und brutal. Er versuchte, es aus seinen Träumen zu verjagen, aber ohne Erfolg. Nach und nach begann er, an Traumstörungen zu leiden. Er wurde rastlos und fing an, sich zu verachten. Die Träume waren voller Streitigkeiten, und oft kam er aus ihnen atemlos, gehetzt und psychologisch vernichtet hervor. Er wurde krank. Er siechte dahin. Er fiel in Depressionen. Endlich entschloß er sich, weniger zu träumen, und vor allem nicht mehr die Träume seiner Nachbarn zu träumen. In der Tat war es ihm geschehen, sich in einem Traum des Herzogs nicht wohl zu fühlen, und aus einem Traum des Mörders war er in kalten Schweiß gebadet erwacht. Jetzt haben alle im Haus wieder angefangen zu träumen. Es hat Freundschaftsbezeigungen gegenüber dem gierigen Träumer gegeben, er war jedoch zu deprimiert, um sie entgegenzunehmen. Seine Träume genügen ihm nicht mehr. Und jetzt kann man ihn manchmal sehen, wie er durch elende und berüchtigte Stadtviertel streicht und versucht, Träume von ungebildeten Leuten aus niederen Schichten zu stehlen; es sind keine schönen Träume, aber er ist jetzt traumsüchtig und würde zum Dieb und Räuber werden, nur um jede Nacht all diese Träume zu haben, auch fremde, auch häßliche und sinnlose — diesen ganzen abscheulichen Haufen von Träumen, die ihn zermürben und der Katastrophe entgegenführen. - (pill)

Traum
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