rapezkünstler
Angeekelt und entschlossen, jeder künstlerischen Karriere zu entsagen, ohne
jedoch die Welt des Varietés aufgeben zu wollen, wurde Rorschach der Impresario
eines Akrobaten, eines Trapezkünstlers, den zwei Besonderheiten schnell berühmt
gemacht hatten: Die eine war seine große Jugend - er war erst zwölf Jahre alt,
als Rorschach seine Bekanntschaft machte -, die zweite war seine Fähigkeit,
mehrere Stunden hintereinander auf seinem Trapez zu bleiben. Die Menge drängte
sich in den Varietes und den Zirkussen, wo er auftrat, um zu sehen, wie er nicht
nur seine Kunststücke vollführte, sondern auf dem schmalen Balken des Trapezes,
dreißig oder vierzig Meter über dem Erdboden, seine Siesta hielt, sich wusch,
anzog und eine Tasse Schokolade trank.
Zu Anfang war ihre Verbindung von Erfolg gekrönt und alle großen Städte Europas, Nordafrikas und des Vorderen Orients klatschten diesen außergewöhnlichen Heldentaten Beifall. Doch mit zunehmendem Alter wurde der Trapezkünstler immer anspruchsvoller. Zuerst nur aus dem Streben nach Vervollkommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit, hatte er sein Leben derart eingerichtet, dass er, solange er im gleichen Unternehmen arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapez blieb. Allen seinen, übrigens sehr geringen Bedürfnissen wurde durch einander ablösende Diener entsprochen, welche unten wachten und alles, was oben benötigt wurde, in eigens konstruierten Gefäßen hinauf- und hinabgezogen. Besondere Schwierigkeiten für die Umwelt ergaben sich aus dieser Lebensweise nicht; nur während der sonstigen Programmnummern war es ein wenig störend, dass er, wie sich nicht verbergen ließ, oben geblieben war und dass, obwohl er sich in solchen Zeiten ruhig verhielt, hie und da ein Blick aus dem Publikum zu ihm abirrte. Doch verziehen ihm dies die Direktionen, weil er ein außerordentlicher, unersetzlicher Künstler war. Auch sah man natürlich ein, dass er nicht aus Mutwillen so lebte und eigentlich nur so sich in dauernder Übung erhalten, nur so seine Kunst in ihrer Vollkommenheit bewahren konnte. Doch die Lösung des Problems wurde schwieriger, wenn die Verträge ausliefen und der Trapezkünstler sich in eine andere Stadt begeben sollte. Zwar sorgte der Impresario dafür, dass er von jeder unnötigen Verlängerung seiner Leiden verschont blieb: Für die Fahrten in den Städten benutzte man Rennautomobile, mit denen man, womöglich in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden, durch die menschenleeren Straßen mit voller Geschwindigkeit jagte, aber freilich zu langsam für des Trapezkünstlers Sehnsucht; im Eisenbahnzug war ein ganzes Coupé bestellt, in welchem der Trapezkünstler, zwar in kläglichem, aber doch in irgendeinem Ersatz seiner sonstigen Lebensweise, die Fahrt oben im Gepäcknetz zubrachte; im nächsten Gastspielort war im Theater lange vor der Ankunft des Akrobaten das Trapez schon an seiner Stelle, auch waren alle zum Theaterraum führenden Türen weit geöffnet, alle Gänge freigehalten, damit der Akrobat, ohne eine einzige Sekunde zu verlieren, wieder in die Höhe klettern konnte. »Wenn ich sah«, schreibt Rorschach, »wie er den Fuß auf die Strickleiter setzte, schnell wie der Blitz nach oben kletterte und endlich wieder oben an seinem Trapez hing, erlebte ich immer wieder einen der schönsten Augenblicke meines Lebens.«
Leider kam der Tag, an dem der Trapezkünstler sich weigerte, wieder herunterzukommen.
Seine letzte Vorstellung im Großen Theater von Livorno war gerade zu Ende gegangen
und er sollte am gleichen Abend noch nach Tarbes weiterreisen. Trotz Rorschachs
und des Varietédirektors Flehen, dem sich bald die immer überschwänglicher werdenden
Rufe der übrigen Truppe, der Musiker, der Angestellten und Bühnenarbeiter des
Theaters anschlossen, sowie auch der Menge, die bereits begonnen hatte, das
Theater zu verlassen, jedoch stehengeblieben und zurückgekommen war, als sie
all dieses Geschrei hörte, schnitt der Akrobat stolz die Strickleiter durch,
die ihm erlaubt hätte, wieder herunterzusteigen, und begann in einem immer schneller
werdenden Rhythmus eine ununterbrochene Folge von Überschlägen auszuführen.
Diese Hochleistung dauerte zwei Stunden und verursachte im Saal dreiundfünfzig
Ohnmachtsanfälle. Die Polizei musste einschreiten. Trotz der Warnungen Rorschachs
brachten die Polizisten eine Feuerwehrleiter herbei und begannen, sie hinaufzuklettern.
Sie kamen nur bis in halbe Höhe: Der Trapezkünstler öffnete die Hände, und mit
einem langen Schrei schlug er nach einer tadellosen Flugbahn auf dem Boden auf.
- (rec)
Trapezkünstler (2)
Trapezkünstler (3) Man weiß nicht,
ob es eine Krankheit oder eine natürliche Entwicklung ist, die den Trapezkünstler
Brisia heimsucht, jedenfalls ist alles in ihm nur darauf angelegt, seinen Umfang
zu vergrößern. Schwierig, in dieser beunruhigenden Masse einen Akrobaten zu
erkennen, der der Definition nach flink und geschmeidig ist: von seinen schinkenförmigen
Händen gehen zehn Finger wie Würste aus, und der übrige Körper verdient nicht
einmal, beschrieben zu werden, da er jetzt mehr den Dinosauriern in den naturwissenschaftlichen
Museen gleicht als einer menschlichen Gestalt. Wenn man wollte, könnte man in
ihm noch andere Tiere erkennen: an den Ohren den Elefanten, an der Mähne den
Löwen, am Leibesumfang das Flußpferd; aber sicher nicht einen Trapezkünstler.
Auch gibt es keine noch so klug ausgetüftelte Konstruktion, die sein Gewicht
aushalten könnte: wäre nicht der Stützpfeiler, würden die Seile reißen und alles
verhängnisvoll zusammenbrechen. Um nicht untätig dazustehen, hat sich Brisia
bei einem Autofriedhof als Nachtwächter verdungen. Beim Schein einer Mondsichel
oder irgendeines Sterns bewegt sich dieser unförmige menschliche Klumpen zwischen
den aufgestapelten Wracks hin und her, mehr als jeder andere es tun würde, und
ohne Zweifel würde sogar ein Dieb Bedenken bekommen, wenn er sich plötzlich
diesem Rhinozerosgesicht gegenübersieht — in der
Tat ist ihm ein Horn auf der Nase gewachsen. -
(bdm)
Trapezkünstler (4) Ein
Trapezkünstler - bekanntlich ist diese hoch in den Kuppeln der großen
Varietebühnen ausgeübte Kunst eine der schwierigsten unter allen,
Menschen erreichbaren - hatte, zuerst nur aus dem Streben nach
Vervollkommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit sein
Leben derart eingerichtet, daß er, so lange er im gleichen Unternehmen
arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapeze blieb. Allen seinen, übrigens
sehr geringen Bedürfnissen wurde durch einander ablösende Diener
entsprochen, welche unten wachten und alles, was oben benötigt wurde, in
eigens konstruierten Gefäßen hinauf- und hinabzogen. Besondere
Schwierigkeiten für die Umwelt ergaben sich aus dieser Lebensweise
nicht; nur während der sonstigen Programmnummern war es ein wenig
störend, daß er, wie sich nicht verbergen ließ, oben geblieben war und
daß, trotzdem er sich in solchen Zeiten meist ruhig verhielt, hie und da
ein Blick aus dem Publikum zu ihm abirrte. Doch verziehen ihm dies die
Direktionen, weil er ein außerordentlicher, unersetzlicher Künstler war.
Auch sah man natürlich ein, daß er nicht aus Mutwillen so lebte, und
eigentlich nur so sich in dauernder Übung erhalten, nur so seine Kunst
in ihrer Vollkommenheit bewahren konnte. - Franz Kafka, Erstes Leid, nach
(kaf)
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