rägheit    In der großen Provinz Mangi war Facfur der oberste Herrscher. Er besaß unglaubliche Schätze und war König über viele Menschen und Ländereien; außer dem Großkhan kannte man keinen mächtigeren und reicheren in der Welt. Aber ihr müßt wissen: Facfur war kein kriegstüchtiger Mann. Er vergnügte sich mit Frauen. Er war wohltatig gegenüber den Armen. In seinem Reiche wurden keine Pferde gezüchtet; seine Untertanen waren weder kampf- noch waffengeübt. Kriegführen war ihre Sache nicht; das Gelände von Mangi bietet nämlich natürlichen Schutz und Sicherheit vor Feinden; alle Städte sind von einem breiten, tiefen Wassergraben umflossen. Es gibt keine Stadt ohne Graben, der nicht einen Bogenschuß breit und sehr tief ist. Ich wiederhole es noch einmal: hätte man die Menschen gelehrt, mit Waffen umzugehen, niemals hätten sie ihr Land verloren. Einzig und allein weil ihnen die Kampferfahrung fehlte, sind sie unterworfen worden. Merkt euch: alle Städte können nur über eine Brücke betreten werden. - (polo)

Trägheit (2)  Es ist bekannt, daß bei manchen Leiden des Nervensystems der Kranke, ohne daß irgendeines seiner Organe selbst betroffen wäre, wie versunken ist in der Unmöglichkeit etwas zu wollen, daß er wie in einem tiefen ausgefahrenen Geleise steckt, aus dem er sich nicht selbst befreien kann und in dem er umkommen würde, wenn sich ihm nicht eine kraftvolle helfende Hand entgegenstreckte. Sein Gehirn, seine Beine, seine Lungen, sein Magen sind in Ordnung. Es liegt keinerlei wirkliches Unvermögen vor zu arbeiten, zu gehen, Kälte zu ertragen oder zu essen. Doch diese verschiedenen Tätigkeiten, die er sehr wohl ausführen könnte, vermag er nicht zu wollen. Ein organischer Verfall, der schließlich das Äquivalent der Krankheiten sein würde, die er nicht hat, wäre die unheilbare Folge der Trägheit seines Willens. - Marcel Proust, Tage des Lesens. Frankfurt am Main 1967 (es 37, zuerst 1925)

Trägheit (3)  Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, daß er sie tut: denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohltut. Wird er in die Not gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (in dieser Eigenschaft ist er bei weitem nicht so viel wert wie ein Franzose oder Engländer), — , so entdeckt er seine Kräfte: dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen und bringt den Schatz von schlafender Energie ans Licht, den er in sich trägt und an den sonst niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht — es ist die große Ausnahme —, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: So daß er, wie gesagt, dann großen Dingen gewachsen ist, die zu dem „schwachen Charakter", den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältnis stehen. Für gewöhnlich aber fürchtet er sich, von sich allein abzuhängen, zu improvisieren: deshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. — Der Leichtsinn ist ihm fremd, für ihn ist er zu ängstlich; aber in ganz neuen Lagen, die ihn aus der Schläfrigkeit herausziehn, ist er beinahe leichtsinnig; er genießt dann die Seltenheit der neuen Lage wie einen Rausch, und er versteht sich auf den Rausch! - (mo)

Trägheit (4)  »Es tut mir leid, aber ich kann in der Trägheit keinen Vorteil fürs Geschäft sehen.«

»Weil du noch jung bist und wirklichkeitsfremd. Aber Trägheit in ihren verschiedensten Formen - die heimliche Kaffeepause, die verlängerte Mittagszeit, das Einnicken am Schreibtisch, ja, und ein Dutzend anderer Variationen - ist das feinste Werkzeug, um den Verstand zu schärfen. Sich nicht erwischen lassen, das ist der Trick. Die Rolle des höheren Angestellten ist nichts für den Kuli; sie gebührt demjenigen, der die immense Fähigkeit, seine Trägheit zu verheimlichen, am besten entwickelt hat.«

»Das ist schwer zu glauben«, sagte Charles.

 »Und dennoch wahr. Zeig mir den Mann, der sich in Ewigkeit mit den Einzelheiten seines Jobs abrackert, und ich sage dir, er ist der geborene Schreiberling. Aber zeige mir den Mann, der sich abzurackern scheint und es gar nicht tut, und ich sage dir, er ist der zukünftige Aufsichtsratsvorsitzende.« - Stanley Ellin, - Stanley Ellin, Die sieben tugendhaften Todsünden. In: St.E,: Der Acht-Stunden-Mann. Bern u. München 1986. In: St.E,: Der Acht-Stunden-Mann. Bern u. München 1986

Trägheit (5)  Fergus Mixolydian, der irisch-armenische Jude, behauptete, das trägste Lebewesen in Nueva York zu sein. Seine schöpferischen Unternehmungen — die alle unvollendet blieben — reichten von einer Wildwestgeschichte in Blankversen bis zu einer Wand, die er aus der Herrentoilette der Penn Station gestohlen und in eine Kunstausstellung eingeschleust hatte (die Dadaisten Amerikas hatten diese Technik als »ready-made« bezeichnet). Die Kommentare der Kritiker waren nicht freundlich. Fergus wurde so träge, daß seine einzige Tätigkeit (abgesehen von solchen Verrichtungen, die zur Erhaltung des Lebens notwendig sind) darin bestand, in jeder Woche einmal an der Küchenspüle mit Trockenbatterien, Retorten, Destillierkolben und Salzlösungen zu hantieren. Was er tat? Er fabrizierte Wasserstoff, den er dazu benutzte, einen großen grünen Ballon zu füllen, auf den ein großes Z gemalt war. Immer wenn er schlafen wollte, band er diesen Ballon an einen Bettpfosten; für Besucher war dies der Hinweis darauf, ob Fergus ansprechbar war oder nicht. Ein anderer Zeitvertreib Fergus' war das Fernsehen. Er hatte einen raffinierten Schlaf-Schalter konstruiert, der von zwei Elektroden, die unter der Haut seines Unterarms angebracht waren, gesteuert wurde. Fiel seine Aufnahmefähigkeit unter einen bestimmten Wert, wurde der Hautwiderstand so hoch, daß der Schalter reagierte. Damit war Fergus ein Zusatzgerät des Fernsehapparats geworden. - (v)

Trägheit (6)  Das sind große Unterlassungssünden. Ich bin ein bedeutender Schurke gegen mich selber. An mir sehe ich, wie die Menschen durch Trägheit sündigen. Ich warte immer auf etwas, das mir entgegenzutreten habe. Wie nun, wenn alle Menschen das tun; wenn jeder so wartet auf das, was da kommen soll? Es kommt nie etwas. Es kommt demnach für niemand das betreffende Etwas. Was einer so erwartet und erwartet, kommt nie. Was also alle erwarten, erscheint allen nie. Hier ist die große Sünde. Anstatt daß ich gehe und jemand entgegengehe, warte ich, bis jemand mir gefällig entgegentritt, das ist die rechte Trägheit, der rechte ungerechtfertigte Stolz. - Robert Walser. Nach: Deutsche Parabeln. Hg. Josef Billen. Stuttgart 2001 (Reclam 7761)

Trägheit (7) Unter allen Leidenschaften kennen wir die Lässigkeit am schlechtesten. Sie ist die glühendste und bösartigste von allen, obwohl ihr Einfluß unmerklich und der Schaden, den sie stiftet, sehr verborgen ist. Wenn wir aufmerksam ihre Macht untersuchen, so werden wir erkennen, daß sie sich bei jeder Gelegenheit zum Herrn über unsere Gefühle, unsern Vorteil und unsere Freuden zu machen versteht, sie gleicht dem Wunderfisch, der die größten Schiffe anhalten konnte; sie ist wie die Windstille, die den wichtigsten Unternehmungen gefährlicher werden kann als Sandbänke und heftige Stürme. Die Ruhe der Trägheit ist eine heimliche Verzauberung unserer Seele, die auf einmal die glühendsten Vorsätze und festesten Entschlüsse preisgibt. Um schließlich eine wahre Vorstellung von dieser Leidenschaft zu vermitteln, muß man sagen, daß die Lässigkeit eine Art Seligkeit der Seele ist und sie über alle Verluste tröstet und ihr alle Güter ersetzt. - (vauv)

Trägheit (8)   Die Reaktionsträgheit chemischer Elemente für uns insofern ein Glück, als unsere Welt ohne sie nicht beständig sein könnte. Wenn Eisen innerhalb von Sekunden verrostet, wenn Sauerstoff sich in jedem Falle und ohne Energiezufuhr mit Wasserstoff verbinden würde, wenn alle chemischen Elemente und Moleküle, die es gibt, ungehindert und in jedem Augenblick miteinander reagieren würden, dann gliche die Erdoberfläche einem brodelnden chemischen Chaos. Keine Struktur und keine Ordnung hätte unter solchen Bedingungen Bestand. Umgekehrt aber wäre eine völlige Reaktionsunfähigkeit, eine Welt, die gleichsam nur aus »Edel-Elementen« bestände, gleichbedeutend mit einer Welt, die keiner Veränderung und damit keiner Entwicklung fähig wäre.  - Hoimar von Ditfurth, Im Anfang war der Wasserstoff. München 1985  (zuerst 1972)

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