oter, alter Wenn die Zeugen verschwunden sind, hört das Abscheiden eines großen Mannes ein für allemal auf, ein plötzlicher Schlag zu sein; die Zeit macht daraus einen Charakterzug. Ein alter Toter ist ein konstitutionell Toter, er ist bereits bei der Taufe ebenso tot wie im Augenblick der letzten Ölung, sein Leben gehört uns, wir betreten es irgendwo, am Anfang, am Ende oder in der Mitte, wir gehen darin auf und ab nach Belieben. Die chronologische Ordnung nämlich wurde gesprengt, und es ist unmöglich, sie wiederherzustellen. Die Gestalt geht keinerlei Risiko mehr ein und kann nicht einmal darauf warten, daß das Gekitzel in der Nase zum Niesen wird. Ihre Existenz bietet den Anschein eines Ablaufs; allein sobald man versucht, ihr ein bißchen Leben einzuflößen, fällt sie in die Gleichzeitigkeit zurück. Versuchen Sie doch einmal, sich an die Stelle eines Verstorbenen zu setzen, tun Sie einmal so, als teilten Sie seine Leidenschaften und Ahnungslosigkeiten und Vorurteile, versuchen Sie, seine erledigten Widerstände zu erwecken oder seine Regungen der Ungeduld oder der Besorgnis; Sie können es nicht vermeiden, sein Verhalten im Lichte von Ergebnissen zu beurteilen, die er nicht voraussah, und von Informationen, die er nicht besaß, und es gelingt Ihnen nicht, gewissen Ereignissen eine besondere Feierlichkeit zu geben, weil die Wirkung dieser Ereignisse ihn später geprägt hat, während er die Ereignisse selbst nachlässig durchlebte. Hier liegt die Spiegelung: die Zukunft ist wirklicher als die Gegenwart. Das ist nicht verwunderlich; wenn nämlich ein Leben zu Ende ist, hält man das Ende für die Wahrheit des Beginns. Der Verstorbene bleibt auf halber Strecke zwischen dem Sein und dem Wert, zwischen der reinen Tatsache und der Rekonstruktion; seine Geschichte wird zu einer Art Treibstoff, der in jedem ihrer Augenblicke verbraucht wird.
In den Salons von Arras trägt ein junger und gezierter Advokat den Kopf unter
dem Arm, denn es ist der verstorbene Robespierre. Blutstropfen fallen aus diesem
Kopf, aber es gibt keine Flecken auf dem Teppich, niemand im Salon scheint es
zu bemerken, und wir sehen nichts als dies; der Kopf rollt erst in fünf Jahren
in den Korb, und trotzdem ist der abgeschnittene Kopf hier, er sagt Madrigale
auf, obwohl seine Kinnlade herunterhängt. Wenn man ihn erkannte, stört dieser
optische Irrtum nicht; man hat die Mittel, ihn zu berichtigen; aber die Intellektuellen
jener Zeit haben ihn maskiert, um den eigenen Idealismus davon zu nähren. Sie
gaben zu verstehen: wenn ein großer Gedanke zur Welt kommen will, requiriert
er den Bauch einer Frau für den großen Mann, der Träger dieses Gedankens werden
soll; der Gedanke sucht ihm seinen Lebenskreis aus, seine Herkunft, dosiert
genau das Verständnis und Unverständnis seiner Angehörigen, regelt seine Erziehung,
unterwirft ihn den notwendigen Prüfungen, komponiert ihm nach und nach einen
schwankenden Charakter, dessen Schwankungen bis zu dem Augenblick geregelt werden,
wo der Gegenstand so vieler Fürsorge nun endlich den Gedanken selbst zur Welt
bringt. Dies wurde nirgendwo ausdrücklich erklärt, alles aber sollte darauf
hindeuten, daß die Verkettung der Ursachen eine umgekehrte und geheime Ordnung
verdeckte. - Jean-Paul Sartre, Die
Wörter. Reinbek bei Hamburg 1968
|
||
|
|
|