otenwache   Wovor soll ich mich fürchten? dachte er bei sich. Sie wird doch nicht aufstehen aus ihrem Sarg, weil sie das Wort Gottes fürchtet. Soll nur liegen bleiben! Und was für ein Kosak wär ich, wenn ich mich vor ihr fürchtete. Nun, ich habe ein Gläschen zuviel getrunken - deshalb kommt es mir unheimlich vor. Aber eine Prise Tabak könnte ich nehmen: Ach, ein guter Tabak! Ein rühmlicher Tabak! Ein schöner Tabak!

Dennoch warf er beim Umblättern einer jeden Seite einen schrägen Blick nach dem Sarg, und ein unwillkürliches Gefühl schien ihm zuzuflüstern: Jetzt, jetzt steht sie auf! Gleich wird sie sich erheben, jetzt schaut sie aus dem Sarg heraus!

Aber es herrschte Totenstille. Der Sarg stand regungslos. Die Kerzen verströmten eine ganze Sintflut von Licht. Schrecklich ist eine erleuchtete Kirche zur Nacht mit einer Leiche und ohne eine Menschenseele!

Mit erhobener Stimme begann er in den verschiedenen Kirchentonarten zu singen, um die Reste seiner Angst zu betäuben. Dennoch richtete er jede Minute seine Augen auf den Sarg, als stellte er sich die unwillkürliche Frage: Was tun, wenn sie sich erhebt, wenn sie aufsteht?

Aber der Sarg rührte sich nicht. Wenn nur irgendein Laut, irgendein lebendiges Wesen, ach nur ein Heimchen in einem Winkel zu vernehmen gewesen wäre ... Aber er hörte nur das leise Knistern einer entfernten Kerze oder den schwachen, leicht nachhallenden Ton eines Wachstropfens, der auf den Fußboden gefallen war.

Wenn sie aber doch aufsteht? Sie hob den Kopf ...

Er schaute wild um sich und rieb sich die Augen. Aber sie lag tatsächlich nicht mehr, sondern saß aufrecht in ihrem Sarg. Er wandte die Augen ab und richtete sie abermals entsetzt auf den Sarg. Sie war aufgestanden ... ging mit geschlossenen Augen durch die Kirche und breitete dabei fortwährend die Arme aus, als ob sie jemanden haschen wollte.

Sie ging geradewegs auf ihn zu. In seiner Angst zog er rasch einen Kreis um sich. Aus Leibeskräften begann er Gebete zu sprechen und Bannflüche herzusagen, die ihn ein Mönch gelehrt hatte, der sein ganzes Leben lang Hexen und unreine Geister gesehen hatte.

Sie stand dicht am Kreis; doch man konnte sehen, daß sie nicht die Kraft hatte, ihn zu überschreiten, und ganz blau wurde, wie ein Mensch, der schon vor mehreren Tagen gestorben ist, Choma hatte nicht den Mut, sie anzublicken. Sie war schrecklich. Sie schlug die Zähne aufeinander und öffnete ihre toten Augen. Da sie jedoch nichts sah, wandte sie sich voller Wut, die in ihrem bebenden Gesicht zum Ausdruck kam, nach der anderen Seite und umschlang, die Arme ausgebreitet, jede Säule und tastete jeden Winkel ab in der Absicht, Choma zu fangen. Schließlich blieb sie stehen, drohte mit dem Finger und legte sich in den Sarg.

Der Philosoph konnte noch immer nicht zu sich kommen und blickte entsetzt auf die enge Behausung der Hexe. Plötzlich riß sich der Sarg von seinem Platz los und begann pfeifend durch die ganze Kirche zu fliegen, wobei er in allen Richtungen durch die Luft kreuzte. Der Philosoph sah ihn fast über seinem Kopf, doch gleichzeitig sah er auch, daß er den von ihm gezogenen Kreis nicht überqueren konnte, und er verstärkte seine Bannflüche. Der Sarg stürzte krachend inmitten der Kirche nieder und blieb regungslos stehen. Die Leiche, blau und grün angelaufen, erhob sich abermals. Aber gleichzeitig ließ sich ein ferner Hahnenschrei vernehmen. Die Leiche ließ sich in den Sarg fallen und schlug dröhnend den Sargdeckel zu.   - Nikolaj Gogol, Der Wij. In: N.G., Sämtliche Erzählungen. Stuttgart u. Hamburg 1961

Totenwache (2)  Als meine Schwester gestorben war, habe ich in der Nacht Totenwache bei ihr gehalten. Ich saß neben ihrem Bett, ich betrachtete sie, wie sie in ihrem Hochzeitskleid mit dem weißen Blumenstrauß auf dem Rücken dalag. Ich las Montaigne, und meine Augen wanderten von dem Buch zu dem Leichnam. Ihr Mann schlief und stöhnte; der Priester schnarchte, und ich sagte mir, als ich all das betrachtete, daß die Formen vergehen, daß allein die Idee bleibt, und ich empfand ein Zittern der Begeisterung bei manchen Stellen der Sätze des Schriftstellers. Dann dachte ich, daß auch er vergehen würde. Es fror; das Fenster war offen wegen des Geruchs, und von Zeit zu Zeit stand ich auf, um die ruhigen, schimmernden, strahlenden, ewigen Sterne anzusehen. Und wenn auch sie erbleichen, sagte ich mir, wenn sie, wie das Auge von Sterbenden, ein angstvolles Licht aussenden werden, dann wird alles gesagt sein; und es wird noch schöner sein. Ich tröste mich also ziemlich über alles hinweg, wenn ich die Sterne betrachte, und ich empfinde gegenüber dem Leben eine so unüberwindliche Gleichgültigkeit, daß es mich langweilt, etwas zu essen, selbst wenn ich hungrig bin.  - Flaubert an Louise Colet, nach (flb)

Totenwache (3) Alfred ist am Montag um Mitternacht gestorben. Ich habe ihn gestern begraben. Zwei Nächte lang habe ich bei ihm gewacht. Ich habe ihn in sein Laken gehüllt, ich habe ihm den Abschiedskuß gegeben und habe gesehen, wie sein Sarg zugelötet wurde. Zwei lange Tage habe ich dort verbracht. Während ich bei ihm wachte, las ich Die Religionen des Altertums von Kreutzer. Das Fenster stand offen, die Nacht war w änderbar, man hörte das Krähen des Hahnes, und ein Nachtfalter flatterte um den Leuchter. Niemals werde ich all das vergessen, weder den Ausdruck seines Gesichts, noch in der ersten Nacht gegen Mitternacht den fernen Ton eines Jagdhorns, der durch die Wälder bis zu mir drang. Am Mittwoch bin ich den ganzen Nachmittag mit einer Hündin spazierengegangen, die mir folgte, ohne daß ich sie gerufen hätte. Diese Hündin hatte eine Zuneigung zu ihm und begleitete ihn immer, wenn er allein ausging. In der Nacht vor seinem Tod hatte sie schauerlich geheult, ohne daß man sie hätte zum Schweigen bringen können. Ich habe mich an verschiedenen Stellen auf das Moos gesetzt, ich habe geraucht, ich habe den Himmel betrachtet, habe mich hinter einen Haufen Ginsterreisig gelegt und habe geschlafen. In der letzten Nacht habe ich die Feuilles d' Automne gelesen. Ich traf immer auf die Gedichte, die er am meisten liebte oder die für mich die gegenwärtigen Dinge betrafen. Von Zeit zu Zeit hob ich den Schleier, den man ihm aufs Gesicht gelegt hatte, hoch, um ihn zu betrachten. Ich war in einen Mantel gehüllt, der meinem Vater gehört hatte und den er nur ein einziges Mal getragen hat, am Tag von Carolines Hochzeit. Als es gegen vier Uhr Tag wurde, haben wir, die Wärterin und ich, uns an die Arbeit gemacht. Ich habe ihn hochgehoben, umgedreht und eingehüllt. Die Empfindung von seinen kalten und erstarrten Gliedern ist mir den ganzen Tag über in den Fingerspitzen geblieben. Er war scheußlich zersetzt. Wir haben ihm zwei Leichentücher gegeben. Als er so zurechtgemacht war, glich er einer ägyptischen Mumie, die in ihre Bänder gezwängt ist, und ich habe für ihn ein unbeschreibliches Gefühl der Freude und Freiheit empfunden. Draußen lag weißer Nebel, die Wälder begannen sich vor dem Himmel abzuzeichnen, die beiden Leuchter glänzten in diesem entstehenden Weiß. Vögel sangen, und ich sagte mir diesen Satz aus seinem Belial: »Als freudiger Vogel wird er in den Fichten die aufgehende Sonne begrüßen«, oder vielmehr hörte ich seine Stimme, die ihn mir sagte, und den ganzen Tag ging er mir auf eine köstliche Weise nicht aus dem Sinn. Man hat ihn in der Diele aufgebahrt. Die Türen waren ausgehängt, und die volle Morgenluft drang mit der Frische des Regens, der zu fallen begonnen haue, herein. Man hat ihn auf den Schultern zum Friedhof getragen. Der Weg dauerte länger als eine Stunde. Hinter ihm gehend, sah ich den Sarg schwanken wie eine schlingernde Barke. Der Gottesdienst war von grauenhafter Länge. Die Erde auf dem Friedhof war fett. Ich habe mich dem Rand genähert und zugesehen, wie eine Schaufel Erde nach der anderen hinunterfiel. F.s schien mir, als wären es hunderttausend. Bei der Rückkehr bin ich mit Bouilhet auf den Sitz gestiegen. Der Regen fiel dicht. Die Pferde liefen im Galopp, ich schrie, um sie anzufeuern. Die Luft hat mir gut getan. Die ganze vergangene Nacht und auch fast den ganzen Tag habe ich geschlafen. Das sind meine Erlebnisse seit Dienstag abend. Ich habe unerhörte Wahrnehmungen gehabt und Wirbel von unübersetzbaren Ideen. Zahllose Dinge sind mir wieder eingefallen, mit Chören von Musik und Wellen von Düften. Bis zu dem Augenblick, als er nicht mehr in der Lage war, etwas zu tun, hat er jeden Abend bis ein Uhr nachts in seinem Bett Spinoza gelesen. An einem der letzten Tage, als die Sonne durch das offene Fenster schien, hat er gesagt: »Mach es zu, es ist zu schön! es ist zu schön!« Es gibt Augenblicke, mein lieber Max, in denen ich auf merkwürdige Weise an Dich dachte und in denen ich traurige Annäherungen von Bildern machte.

Leb wohl, ich umarme Dich und habe große Lust, Dich zu sehen, denn ich habe das Bedürfnis, unverständliche Dinge auszusprechen. - Flaubert an Maxime du Camp, 7. April 1848, nach (flb)

Totenwache (4) Himmlische und irdische Liebe von Tizian  Dieses abscheuliche Gemälde stellt eine Totenwache an den Ufern des Jordan dar. Selten vermochte das Ungeschick eines Malers niederträchtiger die Hoffnungen der Welt auf einen Messias anzuspielen, der durch seine Abwesenheit glänzt; abwesend von dem Bilde, das die Welt ist, glänzt er schrecklich in dem obszönen Gähnen des marmornen Sarkophages, während der Engel, eingesetzt, die Auferstehung seines Schelmenfleisches zu verkündigen, unabdingbar harrt, daß die Zeichen sich erfüllen. Es bedarf wohl keiner Erklärung, daß der Engel die nackte Gestalt ist, welche sich in ihrer himmlisch feisten Leiblichkeit und als Magdalena verkleidet zur Schau stellt, lästerlichste Lästerung zur Stunde, da die wahre Magdalena auf dem Wege fortschreitet (auf dem hingegen die giftige Blasphemie zweier Kaninchen wuchert).

Das Kind, das seine Hand in den Sarkophag taucht, ist Luther, das heißt der Teufel. Von der bekleideten Gestalt hat man gesagt, sie stelle die Glorie in dem Augenblick dar, da sie verkündet, daß alles menschliche Streben in einer Waschschüssel Platz finde.   - Julio Cortázar,  Unterweisung im Verständnis dreier berühmter Gemälde. Nach (cron)

Totenwache (5)

Totenwache (6)  Ich blieb allein auf, um die Totenwache zu halten. Ein Vetter, José Amorós, sollte noch um ein Uhr nachts mit dem Zug aus Barcelona kommen. Ich hatte ziemlich viel Cognac getrunken und saß neben dem Bett meines Vaters, da glaubte ich ihn atmen zu sehen. Ich ging auf den Balkon, um mir eine Zigarette anzuzünden. Es war Mai, und die Luft war voller Akazienduft. Ich wartete auf die Ankunft des Wagens, der meinen Vetter vom Bahnhof herbringen sollte, als ich plötzlich ganz deutlich ein Geräusch aus dem Eßzimmer hörte, wie wenn ein Stuhl gegen die Wand gestoßen würde. Ich drehte mich um und sah meinen Vater auftauchen, mit einem ziemlich aggressiven Ausdruck im Gesicht, die Hände mir entgegengestreckt. Diese Halluzination — die einzige meines Lebens - dauerte etwa zehn Sekunden und verschwand dann. Ich ging in den Raum, in dem die Dienstboten schliefen, und legte mich zu ihnen. Ich hatte nicht wirklich Angst, denn ich wußte, daß es eine Halluzination gewesen war, aber ich wollte nicht allein bleiben.

Die Beerdigung fand am folgenden Morgen statt. Am Tag darauf habe ich im Bett meines Vaters geschlafen. Zur Vorsicht schob ich seinen Revolver unters Kopfkissen - eine sehr schöne Waffe mit seinen Initialen in Gold und Perlmutter —, um auf den Geist zu schießen, sollte er sich noch einmal zeigen. Aber er kam nie wieder.

Dieser Tod war für mich ein entscheidendes Datum. Mein alter Freund Mantecón erinnert sich noch, daß ich ein paar Tage später die Stiefel meines Vaters angezogen, seinen Schreibtisch geöffnet und seine Havannas geraucht habe.  - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

 

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