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(
Brehm
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Totenuhr (2) Ich hörte das Tick-tack der Uhr des Todes. Ich erkannte den Ton sofort. Tatsächlich handelte es sich gar nicht um eine Uhr — schon seit einiger Zeit verzichtete ich auf dieses Instrument — sondern um den regelmäßigen Gesang einer winzigen Motte, die nach einem Gefährten verlangte. Das raffinierte Wesen hatte sich auf einem Regal der Bibliothek postiert und rief nach dem Männchen, indem es das hornige Ende seines Unterleibs gegen den Zettel schlug auf dem sie ausruhte.
»Oh, einsame Señora«, sagte ich, »ich weiß sehr gut, worauf sie warten. Vielleicht haben sie Glück. Vielleicht fliegt im nächsten Moment ihr Gefährte zum Fenster herein, und sie können mit ihm zusammen eine intensive Liebesnacht erleben.«
Seufzend erzählte sie mir, das sei nicht so einfach, und sie werde wohl kein Glück haben, denn sie betrachte sich nicht als eine Motte wie alle anderen. Sie verfüge weder über eine giftige Netzhaut in den Flügeln noch sei ihr Mund derselbe wie bei ihren Gefährten.
»Sollten sie sich in dieser Materie ein wenig auskennen«, sagte sie zu mir, »dann hätten sie längst bemerkt, daß mir jene Nage-Vorrichtung auf dem Oberkiefer fehlt, die für Motten aus guter Familie charakteristisch ist. Sie werden mich daher nicht so ohne weiteres akzeptieren.« »Welch ein Zufall«, rief ich, »mein Herz ist irrtümlicherweise auf der rechten Seite plaziert. Da jedem von uns beiden ein Gefährte fehlt, sollten wir vielleicht ein Übereinkommen treffen.«
»Sie und ich? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?« »Ich mache keine Witze. Der Sachverhalt ist vollkommen klar. Was spielen unsere Körpermaße schon für eine Rolle, wo doch unser beider Einsamkeit so groß ist.«
»Ich habe ja nicht einmal ein Knochengerüst«, gestand sie mir. »In Wahrheit besitze ich nur ein Exoskelett, Ich verfüge über eine Reihe von Drüsen, die sich rasch verhärten und meine äußere Körperfläche formen. Begreifen sie, was das bedeutet? Überlegen sie einmal ganz ruhig für einen Moment: Wie bitte sollen sich unsere Umarmungen gestalten?« »Umarmungen sind nicht nötig«, sagte ich.
»Schluß mit den Possen, mein Herr«, entschied die Motte, die allmählich die
Geduld verlor, »uns trennen tausend Millionen Jahre.« Und damit schwieg sie.
Aber sie blieb weiter auf ihrem Zettel sitzen und rief bald wieder, immer noch
verzweifelt hoffend, nach einem Gefährten. In dieser Nacht träumte ich, ohne
daß ich etwas dagegen tun konnte, von der Motte und erblickte mich, verliebt
und in vielfältiger Gestalt, in ihren Facettenaugen gespiegelt. Eine Zeitlang
schaukelte ich zwischen ihren Fühlern, bevor ich mich liebestoll stöhnend
auf den zwölf Gliedern ihres Unterleibs niederließ.
- Javier Tomeo, Zoopathologie. Berlin 1994 (zuerst 1992)
Totenuhr (3) In dem Schrank im Stil Ludwigs XV. klopfte ein Wurm seinen eintönigen Rhythmus. Tito erinnerte sich, daß man in seiner Heimat dies Insekt die Totenuhr nannte, weil man glaubte, dies Geräusch zeigte im voraus die Todesstunde an.
Statt dessen ist es Liebe. Es ist ein Liebeszweikampf; es ist der Lockruf, den beide Geschlechter hervorbringen, indem sie mit dem Kopf gegen das Holz ihrer gargonniere klopfen.
«Und die Menschen töten sie, weil sie Parasiten sind», dachte Tito. «Als
ob der Mensch nicht das schlimmste Phänomen von animalischem und vegetabilischem
Parasitentum wäre! - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg
1988 (rororo 12225, zuerst 1922)
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