Totenopfer    Schweigend und schwer atmend, hatte Wu Sung das Geständnis von Goldlotos angehört. Jetzt verneigte er sich vor der Seelentafel, sprengte Opferwein auf den Boden aus und setzte papierenes Totengeld in Brand. Dann erhob er feierlich seine Stimme und sprach, den Blick zur Seelentafcl emporgerichtet: »Hörc mich, Bruder! Ich weiß, dein Geist weilt nahe. Die Stunde der Rache ist gekommen, und ich, Wu Sung, will dein Rächer sein!« In ihrer Todesangst begann Goldlotos gellende Hilferufe auszustoßen. Aber schon hatte er ihr den Mund mit einer Handvoll Asche, die er aus dem Räucherbecken hcrauslangte, zugestopft und stumm gemacht. Dann drückte er sie mit der Stirn roh und heftig zu einem erzwungenen Kotau auf den Boden nieder. Von Wut gepackt, machte sie sich in jäher Kraftanspannung für einen Augenblick vom Druck seiner Faust frei und riß sich allen ihren Schmuck vom Leibe, daß die Agraffen und Spangen, die Emailleblumen und Perlen und Ringe nur so durcheinander purzelten und mit hellem Klingen über den Boden kollerten. Ein zorniger Fußtritt traf sie in die Lende und ließ sie seitlich umklappen. Dann preßte sich eine harte Stiefelsohle schwer und atcmbeengend auf ihre zarte Brust, und wie Donnergrollen drang es an ihr Ohr: »Weib, man hat dich immer als klug und weise gerühmt. Jetzt will ich mich überzeugen, ob du wirklich das siebenfach geöffnete Herz des Weisen hast.«

Mit diesen Worten stieß er ihr das Messer tief in die Herzgrube und weitete den schmalen Riß zu blutig gähnender Öffnung, aus der ein purpurroter Quell hervorschoß. Ein kurzes Zucken und Stampfen der Beine, und ihre zwei Seelen waren aus ihrem Körper entwichen. Jetzt zog er das Messer zurück, schob seinen Griff quer zwischen seine Zähne und langte ihr warmes Herz aus der Leibeshöhle heraus. Er tat es in eine Schale und legte es unter feierlicher Verneigung als Totenopfer vor der Seelentafcl des Bruders nieder.

Hierauf wandte er sich der alten Wang zu, die mit lauter Stimme »Hilfe! Mörder!« zu kreischen anfing. Ohne weitere Umstände trennte er ihr den Kopf vom Rumpf.   - Kin Ping Meh oder Die abenteuerliche Geschichte von Hsi Men und seinen sechs Frauen. Frankfurt am Main 1970 (zuerst ca. 1610, Wang Schi Tschong zugeschr.)

Tote Opfer

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