Totenhaus  »Hier werden wir übernachten!« sagten sie und betraten das Haus. Aber obgleich sie »Hier ist alles friedlich und in Ordnung, amurchan sachan beinu?« mehrfach gerufen hatten, drang nicht ein Laut aus dem Innern des Hauses heraus. Auch sahen sie im Haus keinen Lampenschein. Weil zudem aus dem Hause ein sonderbarer Geruch kam, schlug einer der biederen jungen Leute mit Stahl und Feuerstein Feuer, brannte eine Lampe an, und sie schauten sich um. Wie sich die beiden nun umdrehten, fanden sie sich von Toten umgeben, und sie ängstigten sich sehr und sagten zitternd: »Sollen wir zwei hier übernachten oder nicht übernachten?«

»Da wir nun schon einmal hier sind«, sagte der eine von ihnen, »laß uns hier übernachten, wenn auch die Toten daneben sind!« Daraufhin der andere junge Mann, der sich vor den Toten fürchtete: »Ich gehe in die Steppe hinaus und werde dort die Nacht verbringen.« So sprachen sie und trennten sich. Der Junge, welcher draußen schlafen wollte, bestieg sein Pferd und ritt davon. Der Zurückgebliebene aber, so sehr auch er sich fürchtete, war durch den weiten Weg völlig ermattet und konnte nicht mehr weg und schlief brummend ein. Als es Mitternacht geworden war, kam er wieder zu sich und sah, daß die Toten, vom Hausherrn angefangen, alle wieder lebendig geworden waren und ihn mit all der Ehre, die einem Gast gebührt, begrüßten. Sie bewirteten ihn und mitten in diesem Bankett zur Nacht wandte sich der Hausherr an den jungen Mann: »Edler Herr, daß Ihr in meinem Hause ohne Zögern übernachtet habt, freut mich außerordentlich. Einen so guten Menschen wie Euch gibt es nicht noch einmal. Warum nur hat der zweite Mann, der mit Euch gekommen war, vor meinem Haus Abscheu gehabt und ist davongegangen? Wenn ich's recht bedenke, ist er doch ein Mensch von schlechten Gedanken. Er hat mein Haus sehr beleidigt, wenn Ihr nicht geht, um ihn zu bitten, Euch hierher zu folgen. Weil wir doch bei unserm nächtlichen Gelage um einen Gast unvollzählig sind, wollt Ihr da nicht doch gehen und ihn irgendwie hierherbringen?«

Weil er ihn damit immer wieder bedrängte, so stieg der junge Mann auf sein Pferd, um seinen Gefährten herbeizu-bitten, aber es waren kaum einige Minuten vergangen, nachdem er weggegangen war, als er auch schon wiederkam und ein Pferd mit sich brachte. Als ihn der Hausherr daraufhin fragte: »Bitte, was ist mit dem einen jungen Mann, den du hierherzubringen gegangen warst? Weshalb hast du ihn nicht mitgebracht?«, sagte der Junge: »Obgleich ich zu dem Nachtlager meines Gefährten gegangen war, konnte ich diesen doch nicht hierherbringen. So wie du gesagt hattest, ging ich an seine Seite, aber kaum hatte ich gerufen: ›Steh auf!‹, da stieg auf der linken Seite, wo der junge Mann schlief, die Sonne hoch, zu seiner Rechten aber erstrahlte ein Mond. Als ich an seinen Kopf trat, richtete ein Adler seine Augen auf mich, und als ich erschreckt nach seinen Füßen sprang, da nahm ich außer Sinnen nur sein Pferd mit mir und ritt hierher, denn zu seinen Füßen wachte ein wilder Jungstier!«

Während der junge Mann so sprach, hellte sich auf einmal die Nacht auf, der Morgen graute, alle die vielen, die von Anfang an beim Mahle gesessen, gab es nicht mehr, und weil die Toten wie am Tage vorher starr und steif schliefen, erschrak er sehr, bestieg sein Pferd und floh das Haus, indem er seinen Gefährten suchte. Obgleich er kurz darauf schon auf den Gefährten stieß, schlief dieser noch immer, sein Pferd aber lag tot daneben.  - Mongolische Märchen. Hg. Walter Heissig. München 1993 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

 

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