totengräberblick   Stephes Blick fiel auf ein  sehr junges Mädchen, das dicht am Grabe stand. Er sah sie lange an, dann lächelte er. Wußte: »Sie wird zu mir kommen. Sie gehört mir.«

Von nun an betrachtete er genau die Reihe der Leidtragenden, denen er sonst nie den kleinsten Blick geschenkt hatte. Mochte sich eine verstecken hinter schwarzen Jacken und Röcken - Stephe fand sie doch.

Und er sah die Frauen und Mädchen, die zum Friedhofe kamen, die Gräber zu schmücken. Schaute Jede an, maß sie lange. Manchmal lächelte er; das  war, wenn er fühlte: »Die wird zu mir kommen.«

Auch wenn er zu seltenen Besuchen in die Stadt ging,  blickte er nach den Frauen. Die Straßen hinauf und hinunter, hinein in die Türen und Fenster. »Die da«, flüsterte er, »die da!«

Sein großer Tag aber kam vor Ostern; das war der Totentag. Alle Gräber wurden geschmückt und an allen Gräbern standen weinende Frauen. Da ging Stephe durch die Wege, Stunde um Stunde, blieb stehn eine kleine Weile, blickte sich um, lächelte.

Ein großer Liebesmarkt - viel gute Ware. Aber nur einer wußte darum - er, Stephe.

Wirklich nur er?

Es war, als ob auch die andern es wußten - die Frauen und Mädchen.

Nicht wußten - nein. Aber fühlten, ahnten - irgendein Schreckliches. Und das hatte mit dem Blick des Totengräbers zu tun, und mit seinem Lächeln.

In der Folge sah Jan Olieslagers viele Male diesen Blick und dies Lächeln. Er beobachtete es genau, viel genauer als jeder andere. Obschon er aber der einzige war, der seine Bedeutung kannte, vermochte er doch nicht ein einziges Mal dahinterzukommen, wieso es möglich war, daß jemand auch nur den kleinsten Eindruck davon haben könnte. Denn sein Blick hatte nichts Grauenvolles, nichts Erschreckendes, sein Lächeln nichts Herzbeklemmendes oder Teuflisches. Es war ein freundlicher, stiller Blick und ein gütiges Lächeln.

Dennoch - mit einem besonderen Sinn begriffen die Frauen und Mädchen. Ja, halbe Kinder begriffen, kleine Dinger mit langflatternden Haaren und kurzen Röcken.

In der Kapelle, während des Gebetes, fiel eine junge Frau in Ohnmacht unter diesem Blick. Das war nur einmal, und Jan Olieslagers dachte, daß es vielleicht auch eine andere Ursache haben könnte. Vielleicht. - Aber das war ganz gewiß, daß die Mädchen auswichen, sowie Stephe daherkam. Daß die Kinder - o nein, nie die Buben - sich verkrochen hinter den Röcken ihrer Mütter, daß die jungen Mütter ein Kreuz machten, wenn sie ihn sahen. Selbst alte Weiber fürchteten sich, schraken auf, stießen einen kurzen Schrei aus.  - Hanns Heinz Ewers, Der schlimmste Verrat. In: H. H. E., Der letzte Wille der Stanislawa d'Asp. Frankfurt am Main und Berlin 1991

 

Totengräber Blick

 

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