otengespräche Er hörte, daß die Frauen in dieser Gegend auf den Friedhof gehen, um mit den Toten zu reden; vor den Grabsteinen führen sie angeblich lange Unterhaltungen mit den Verstorbenen ihrer Familien.
Er beschloß also, die eine oder andere zu fotografieren, während sie sich gerade mit einem Toten unterhielt. Eines Nachmittags bezog er Stellung auf dem Friedhof von Ca' Venier und machte mit einem ellenlangen Teleobjektiv, ohne selbst gesehen zu werden, ein paar Schnappschüsse. Daraufhin schickte er die Negative an sein Wochenmagazin und fuhr zum Wochenende nach Venedig,
Auf den Fotos, die er auf dem Friedhof von Ca' Venier gemacht hatte, sah man jedoch so gut wie nichts außer einer schwarz gekleideten Frau mit halbgeöffneten Lippen vor einem Grabstein. Die Redaktion des Wochenmagazins bat den Fotografen, noch einmal in dieselbe Gegend zurückzukehren, mit jemandem Kontakt aufzunehmen, sich genau erklären zu lassen, was die Toten sagten, und, womöglich, ein paar Fotos mit dramatischeren Gesten zu machen; all das, um den Lesern eine genauere Vorstellung davon zu geben, was sich auf jenen Friedhöfen abspiele.
Der Fotograf kehrte also wieder in dieselbe Gegend zurück und ging aufs
Geratewohl auf einen anderen Friedhof, wo er sich einer schwarz gekleideten
Frau, die gerade vor einem Grabstein kniete, zu nähern versuchte (und sie,
ohne daß sie es merkte, interviewen wollte, denn er hatte in einem Jackenknopf
ein winziges Mikrophon eingebaut). Die Frau aber antwortete ihm nicht,
würdigte ihn nicht einmal eines Blickes und verließ unverzüglich den Ort
zusammen mit allen anderen Frauen, die sich zwischen den Grabsteinen aufgehalten
hatten. -
(gcel)
Totengespräche (2) Der Fotograf wollte, da es schon spät war, die Rede noch einmal auf die Toten bringen, die auf dem Friedhof mit den Frauen sprechen.
Der Fischer sagte, das wäre wirklich so. Wenn der Fotograf jedoch wissen wollte, was die Toten sagen, dann könnte er ihm vielleicht helfen, indem er seinen fehlenden Finger fragte.
Dann hob er seine verstümmelte Hand in die Luft und fing an, die fehlenden Finger mit der anderen Hand ins Leere zu schlagen. Währenddessen erklärte er dem Fotografen, es gebe auf Sandzungen oder auf den »barene« im Meer Stellen, wo man hören könne, was die Toten sagen; er selbst war schon ein paarmal auf der Jagd oder beim Fischen auf solche Stellen gestoßen, aber immer rein zufällig und ohne die Stellen ein anderes Mal wiederfinden zu können.
Wenn es ihm jetzt gelänge, den fehlenden Zeigefinger durch ein paar Ohrfeigen zu wecken, dann würde er vielleicht eine Richtung angeben, in die sie am nächsten Tag gehen könnten.
Den Fotografen belustigten diese Erklärungen und so ließ er ihn reden, bis sie ins Bett gingen. Gegen Mitternacht schlief er auf dem Feldbett ein, das ihm der Fischer zur Verfügung gestellt hatte.
Früh am Morgen weckte ihn der Fischer und sagte, sein Finger würde jetzt »zeigen«; sie müßten sich beeilen und dorthin gehen, wo der Finger hinzeigte.
Mit dem Wagen des Fotografen fuhren sie zu einem Ort hinter dem Dorf Püa, wo ein Kanal zwischen zwei Sumpfgebieten ins offene Meer fließt. Hier bestiegen sie einen Kahn, den der klapperdürre Mann zwischen den Binsen liegen hatte, und begannen aufs Meer hinauszurudern.
Der Rest der Reise wurde für den Fotografen ein immer merkwürdigeres Abenteuer. Während sie auf kleine Inseln und ferne »barene« zuruderten, von denen manche voll nie gesehener Vögel waren, gab der Fischer phantastische Namen für die kleinen Inseln im Meer an, nannte sie Barea, Zoaglia, Ca' Morta, Morosina, Pegasus und Bacucca.
Als sie auf eine kleine Düne voller Vögel, die bei ihrer Ankunft wegflogen, kamen und sein Begleiter diese Düne die Neue Welt nannte, wußte der Fotograf, daß sie ihr Ziel erreicht hatten.
Nachdem der Fischer den Fotografen gedrängt hatte, schnell auszusteigen
und den Toten zuzuhören, wendete er das Boot und ließ ihn bei Schlamm und
Binsen auf ein paar Quadratmeter Boden zurück, nicht ohne ihm erklärt zu
haben - aber dabei wandte er dem Fotografen schon den Rücken zu und entfernte
sich rudernd -, daß ihn der fehlende Finger in die Neue
Welt gebracht und auch befohlen hatte, er müßte dort bleiben.
-
(gcel)
Totengespräche (3) Daß das Gespräch mit den Toten als Unternehmen schwierig auszudenken, als Ausgedachtes schrecklich, fürchterlich anzugehen sei, entsetzlich, wenn erst unternommen und in jeder Weise beängstigend, wird jedermann leicht zugeben. Und man bedenke: die Mahnungen, die Widerstände der Frommen, der Zaghaften; die Natur des Gesprächspartners: flüchtig, schweigsam, entrückt oder doch fast gänzlich aufgezehrt, praktisch inexistent; vielleicht verlangend nach Sprechen oder auch erpicht darauf, aber gefangen in den Schikanen einer kleinlichen Etikette; oder dazu gezwungen, uns zu übergehen oder sich zu sperren, uns zuzuzwinkern, zu albern. Und man vergesse nicht, wie anders als die Lebenden jemand sein muß, der die Zollgrenze des Todes überschritten hat: sei sie nun als Transit, als Trichter, Treppe, Auffahrt oder Niederfahrt, Explosion oder Auflösung zu verstehen. Man bedenke auch die technischen Bedrängnisse, die linguistischen Verlegenheiten, die Ratlosigkeiten über die geeigneten und kongruenten Zeitpunkte und Orte, über zulässige und unpassende Fragen, und schließlich über die Hermeneutik der Antworten.
Aber es findet sich immer jemand, der bereit ist, mit dem Schädel gegen die Wand des Todes anzurennen, und diese Studien gehen in der Tat weiter und gewinnen akademische Würde und wissenschaftlichen Ernst, obgleich es nur ein geflüsterter Ruhm ist, dem ihre Anhänger nachstreben, und sein Glanz stumm und widerborstig.
Vordringliche Frage sei daher: ist es zulässig, mit den Toten zu sprechen? Ist es Unverschämtheit? Ist es Infamie? Ist es Todsünde? Ist es unverzeihliche Gemeinheit?
Daß die Religionen für gewöhnlich solchem Umgang feindlich gesonnen sind,
wissen alle: sie reden von Ruchlosigkeit, zitieren himmlische und höllische
Verbote, ziehen fürchterliche und unüberschreitbare Grenzen. Über die wahren
Gründe hierfür mutmaßt man in unterschiedlichster Weise. Mag sein, so flüstert
man nicht ohne Kühnheit, daß die Religionen als Glöckchenlabyrinthe und Zuckerbohnenarchitekturen
sehr fürchten, daß jemand Forschungen anzustellen wagt in Regionen, in denen
sich möglicherweise etwas findet, das kühnlich als Bestätigung oder Billigung
verstanden werden kann. Und daher raten ihre sentenziösen Prediger davon ab,
knirschen liebevoll bedrohlich mit den Zähnen, keifen
und verkneifen das Lachen, um die neugierigen Gläubigen davon abzuhalten, dem
Überirdischen unter die Röcke zu gucken: welch letztere
sie ganz lang und rundum bis zum Boden fallend haben möchten. - (nieder)
Totengespräche (4) Kapitän Cat, pensionierter blinder Schiffskapitän, schläft in seiner Koje in der meermuschelig Haschens criiffflotten, tipp-toppen besten Kajüte von Schonerbaus und träumt von nie solchen Seen wie die, die die Deckplanken seines Dampfers Kidwelly spülten, die quellen über die Bettücher auf und saugen ihn quallenschlüpfrig hinab, salztief in die Klabauternacht, und die Fische schwimmen beißend herbei und nagen ihn ab bis aufs Gabelbein,, und die längst Ertrunkenen nuscheln sich an ihn an.
ERSTER ERTRUNKENER Denkst noch an mich, Kapitän?
KAPITÄN CAT Du bist Williams, der Tänzer!
ERSTER ERTRUNKENER Hab in Nantucket *nen falschen Schritt getan.
ZWEITER ERTRUNKENER Siehst du mich, Käpten? Den redenden weißen Knochen? Ich bin Tom-Fred, der Hilfsmaschinist. . . Wir haben mal beide dasselbe Mädel geteilt... Sie hieß Mrs. Probert.. .
FRAUENSTIMME Rosie Probert, Entengäßchen 33. Kommt nur rauf, Jungens, ich bin tot.
DRITTER ERTRUNKENER Halt mich, Kapitän! Ich bin Jonah Jarvis, hab ein böses Ende genommen, sehr vergnüglich ...
VIERTER ERTRUNKENER Alfred Pomeroy Jones, Zwischendecksadvokat, geboren in Mumbles, gesungen wie 'n Zeisig, gekrönt hab ich dich mit *ner Kruke; tätowiert mit Seejungfrauen, durstig wie 'n Löffelbagger, gestorben an den Karbunkeln.. .
ERSTER ERTRUNKENER Dieser Knochenschädel an deinem Ohr ist...
FÜNFTER ERTRUNKENER Wuschelkopf Bevan. Sag meiner Tante: der die Kaminuhr mit den Goldarabesken versetzt hat, das war ich . ..
KAPITÄN CAT Aye, Aye, Wuschelkopf!
ZWEITER ERTRUNKENER Sag meiner Alten, nein, ich hab niemals nicht...
DRITTER ERTRUNKENER Ich hab das nie getan, was sie gesagt hat, daß ich. . . nie!
VIERTER ERTRUNKENER Doch. Die haben es getan.
FÜNFTER ERTRUNKENER Und wer bringt meiner Gwen jetzt Kokosnüsse und Schals und Papageien?
ERSTER ERTRUNKENER Wie geht's bei euch oben?
ZWEITER ERTRUNKENER Gibt's noch Rum zu trinken und Tang zu essen?
DRITTER ERTRUNKENER Brüste und Rotkehlchen?
VIERTER ERTRUNKENER Ziehharmonikas ?
FÜNFTER ERTRUNKENER Ebenezers Glocke?
ERSTER ERTRUNKENER Keilereien und Zwiebeln?
ZWEITER ERTRUNKENER Und Spatzen und Gänseblümchen?
DRITTER ERTRUNKENER Stichlinge im Einmachglas?
VIERTER ERTRUNKENER Buttermilch und Windhunde?
FÜNFTER ERTRUNKENER Baby zum Schaukeln?
ERSTER ERTRUNKENER Wäsche an der Leine?
ZWEITER ERTRUNKENER Und alte Schachteln hinterm Ofen in der Kneipe?
DRITTER ERTRUNKENER Wie sind die Tenöre in Dowkis?
VIERTER ERTRUNKENER Wer melkt die Kühe in Maesgwyn?
FÜNFTER ERTRUNKENER Wenn sie lacht, sieht man Grübchen?
ERSTER ERTRUNKENER Wie riecht bloß Petersilie?
KAPITÄN CAT Ach, meine toten Lieben! - Dylan Thomas, Unter dem Milchwald.
Ein Spiel für Stimmen. Nachdichtung von Erich Fried. Heidelberg 1954
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