otenerweckung Man hatte mir von diesen häufigen Besuchen des Friedhofs Montparnasse abgeraten, als gefährlich auf Grund dort oben liegender Miasmen. Tatsächlich hatte ich einen gewissen Nachgeschmack von Grünspan bemerkt, der im Mund blieb, noch zwei Stunden nach meiner Rückkehr nach Hause. Also hielten sich die Seelen, das heißt die entmaterialisierten Körper, schwebend in der Luft: das regte mich zu dem Versuch an, sie zu fassen und zu analysieren. Versehen mit einem flüssigen Bleizucker enthaltenden Flakon mache ich mich auf diese Jagd nach den Seelen, ich meine Körpern, und mit der geöffneten Phiole in meiner geschlossenen Hand gehe ich umher wie ein Vogelfänger, der Mühe enthoben, meine Beute zu locken.
Zu Hause filtere ich den den reichlichen Niederschlag und lege ihn unter das Mikroskop. Armer Gringoire! sind es wirklich diese kleinen Kristalle, aus denen sie zusammengesetzt war, die Gehirnmaschine, die in meiner Jugend meine frühen Sympathien für den notleidenden Dichter erweckte, welcher dennoch in der Lage ist, die Liebe eines jungen hübschen Mädchens zu gewinnen? Tapferer und ehrenwerter Boulay (der den Code redigierte, nach dem, was ich jetzt erfahren habe), bist du es wohl, den ich in meinem Fliegenkescher geschnappt habe? Oder vielleicht du, d'Urville, der mich zu meiner ersten Weltumseglung einlud, an den langen Winterabenden, weit fort von hier, unter dem Nordlicht in Schweden, zwischen Rohrstock und Schularbeiten?
Statt zu antworten, gieße ich einen Tropfen Säure auf den Objektträger. Sie schwillt an, diese tote Materie, sie zuckt, beginnt zu leben, haucht einen fauligen Geruch aus, beruhigt sich und stirbt.
Gewiß, ich verstehe es, die Toten aufzuwecken, aber ich tue es nicht noch
einmal, denn sie haben einen schlechten Atem, die Toten, wie die Wüstlinge nach
einer durchwachten Nacht. Schlafen sie vielleicht nicht richtig gut, dort unten,
in Erwartung der Auferstehung? Ich wurde vor
zehn Jahren Atheist! Warum? Ich weiß es nicht genau! Das Leben langweilte mich,
und etwas mußte unternommen werden, vor allem etwas Neues. Jetzt, da es alt
ist, ist es mein Wunsch, nichts zu wissen, die Fragen unentschieden zu lassen
und abzuwarten. - (blau)
Totenerweckung (2) Am 3. Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei gestorben, das Friederike hieß; er faßte es auf wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer und fastete einen Tag. Am 4. trat er plötzlich ins Zimmer zu Madame Oberlin; er hatte sich das Gesicht mit Asche beschmiert und forderte einen alten Sack. Sie erschrak; man gab ihm, was er verlangte. Er wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender, und schlug den Weg nach Fouday ein. Die Leute im Tale waren ihn schon gewohnt; man erzählte sich allerlei Seltsames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leute gingen gleichgültig ihrem Geschäfte nach; tnan wies ihm eine Kammer: das Kind kg im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten
gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich so allein
und einsam. Er warf sich über die Leiche nieder. Der Tod erschreckte ihn, ein
heftiger Schmerz faßte ihn an: diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen
- er warf sich nieder; et betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott
ein Zeichen an ihm tue und das Kind beleben möge . . .; dann sank er ganz in
steh und wühlte all seinen Willen auf einen Punkt. So saß er lange starr. Dann
erhob er sich und faßte die Hände des Kindes und sprach laut und fest: »Stehe
auf und wandle!« Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu
spotten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsinnig nieder;
dann jagte es ihn auf, hinaus ins Gebirg. - Georg Büchner, Lenz
Totenerweckung (3)
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