otenblick
Der Blick eines Toten ist immer ein bißchen tadelnd. Orte, Situationen, Gelegenheiten
sind mehr oder minder dieselben, die man schon kannte, und sie wiederzuerkennen,
verschafft einem immer eine gewisse Befriedigung, aber zugleich bemerkt man
zahllose kleine oder große Veränderungen, die man an und für sich auch schon
akzeptieren könnte, wenn sie einer logischen, kohärenten Entwicklung entsprächen,
doch sie erscheinen willkürlich und regellos, und das stört einen, vor allem
weil man immer versucht ist einzugreifen, um die Korrektur anzubringen, die
man für nötig hält, doch man kann es nicht, weil man ja tot ist. Daher dann
ein Widerstreben, fast eine Befangenheit, aber zugleich eine Art Überheblichkeit,
wie bei einem, der weiß, daß nur die eigene, selbstgemachte Erfahrung zählt
und alles übrige nicht so wichtig zu nehmen ist. Und bald entsteht auch ein
dominantes Gefühl, das jeden Gedanken beherrscht, nämlich die Erleichterung
zu wissen, daß alle Probleme nur die Probleme der anderen sind, ihre Sache.
Den Toten müßte eigentlich alles egal sein, da nicht mehr sie die Aufgabe haben,
darüber nachzudenken, und so unmoralisch das klingen mag, gerade in dieser Nichtverantwortlichkeit
finden sie ihre Freude. - (
calv
)
Totenblick (2) Das Fest im Speisesaal war noch in vollem Gange; er konnte das Stimmengemurmel hören und ein paar Takte Musik.
Er sah über die Reling auf die Spiegelungen der bunten Lampen hinunter. Plötzlich erstarrte er. Direkt unter der Oberfläche des Wassers blickte ihn ein bleiches Gesicht mit starren, weiten Augen an.
Ein Blick genügte. Er hatte die Tänzerin gefunden.
Der Richter wollte gerade die Fallreepsleiter hinabsteigen, als Ma Jung um die Ecke kam. Richter Di deutete schweigend auf seinen Fund. Ma Jung fluchte. Er ging rasch das Fallreep hinunter, bis er mit den Knien im Wasser stand. Er hob die Leiche auf seine Arme und brachte sie an Deck. Der Richter führte ihn zur Hauptkabine; dort legten sie den Leichnam auf das Bett.
»Das arme Mädchen ist schwerer, als ich dachte!« bemerkte Ma Jung, während er seine Ärmel auswrang. »Ich vermute, daß ihr etwas Schweres in die Jacke gesteckt worden ist.«
Richter Di hatte ihn nicht gehört. Er stand da und blickte auf das tote Gesicht hinab. Die unbeweglichen Augen starrten zu ihm hoch. Sie trug ihr Tanzkostüm aus weißer Seide, aber darüber hatte sie eine grüne Brokatjacke angezogen. Das nasse Kleid, das an ihr klebte, enthüllte auf eine beinahe obszöne Weise die Schönheit ihres Körpers. Richter Di schauderte. Noch vor wenigen Augenblicken war sie in ihrem hinreißenden Tanz herumgewirbelt. Und dies war nun das plötzliche Ende.
Er schüttelte diese morbiden Gedanken ab. Über die Leiche gebeugt, untersuchte
er die dunkelblaue Prellung an der rechten Schläfe. Dann versuchte er, ihre
Augen zu schließen, aber die Lider bewegten sich nicht, und der Blick der Toten
blieb starr auf ihn gerichtet. - Robert van Gulik, Der See von Han-yuan. Zürich 1990
Totenblick
(3)
Ein unangenehmes Gesicht! Die Nase lang und gebogen, wie ein Geierschnabel,
zwei Furchen gruben sich ein von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln, die
fleischigen Lippen waren geschürzt, entblößten die Zahne — und es sah aus, als
lächle der Tote mit all seinen Goldplomben. Und der Blick, bevor dem Toten die
Augen zugedrückt worden waren! Studer erinnerte sich an ihn: geladen mit Hohn,
im Tode noch! - Friedrich Glauser, Krock und Co. In: F. G., Kriminalromane.
Berlin 1990
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