Topographie, kosmische   Wie würde ein Neutrino-Universum aussehen? Szalay und Seldowitsch hatten eine grobe Beschreibung geliefert: Riesige flache Wolken von Galaxien umschlossen leere Räume wie Wände in einem unmöblierten Haus. Große Zusammenballungen und große Leerräume, Korrelationen, die sich über Hunderte von Millionen Lichtjahren erstreckten, bildeten in einem gigantischen Maßstab eine Ordnung. Die größten Strukturen im Universum waren die ältesten. Einander überlappende Flächen von Galaxien bildeten eine Art zellularer Struktur. Die Galaxien befanden sich an den Wänden und besonders in den Ecken der Zellen, und dazwischen war leerer Raum.

In einem Gespräch fragte ich Davis, ob das Universum dunkle Materie enthalte, ob es massive Neutrinos gebe und ob pfannkuchenartige Strukturen existierten.

Davis war nicht der Ansicht, daß es so aussah. Er meinte, das Universum gleiche keiner uns bekannten Struktur. Er zählte auf, warum die Theorien von Seldowitsch und Peebles nicht mit seinen Ergebnissen übereinstimmten: Die von der Pfannkuchentheorie vorausgesagten Löcher seien tatsächlich vorhanden, aber er habe nichts finden können, das Pfannkuchen geglichen habe. Dagegen waren laut Davis für die traditionelle Theorie von Peebles, wonach zuerst die Galaxien entstanden waren und sich dann zu Haufen gruppiert hatten, die Löcher zu groß. Eines hatte einen Durchmesser von hundert Millionen Lichtjahren, und die Galaxien bewegten sich zu langsam, als daß sie seit dem Beginn der Zeit solche Räume hätten durchmessen können. »Natürlich«, sagte Davis mit einem schiefen Lächeln, »können wir nicht wissen, ob die Löcher leer sind oder nur dunkel.« Sie könnten, erklärte er, tatsächlich sehr lichtschwache Galaxien enthalten oder Gaswolken, die nie zu Sternen kondensiert waren oder auch nur Schwärme seltsamer Partikel. »Ich bin mir nicht sicher, ob irgendeine Theorie in ihrer gegenwärtigen Form den Ergebnissen standhält.«

Das war Davis' Ansicht. Offensichtlich sah jeder Betrachter etwas anderes. Als die ersten Daten der CFA-Studie veröffentlicht wurden, musterte Seldowitsch die Rotverschiebungskarten, auf denen sich Klumpen von Galaxien um leere Räume rollten wie die Kämme sich überschlagender Wellen, und erkannte darin die Zellen Einastos. Er und seine Mannschaft publizierten einen triumphierenden Artikel in Nature. Darin wiesen sie darauf hin, daß nach ihrer eigenen Analyse der Harvard-Daten neunzig Prozent der Galaxien in Strings und Klumpen angeordnet seien. Etwa zehn Prozent des gesamten Raums würden von Superhaufen

eingenommen. Sie kamen zu dem Schluß, dies sei ein Triumph der Pfannkuchentheorie.

Ein Großteil der Astrophysiker schien diese Meinung zu teilen. Das Ergebnis der Rotverschiebungsstudie deutete eher auf ein Pfannkuchen-Universum hin als auf ein hierarchisches Peebles-Modell. Zugegeben, die Topographie war unordentlich und nicht so eindeutig zellular, wie es Einasto vorausgesagt hatte, aber es kam vor allem auf die Größenverhältnisse an: Die Leerräume und Ballungen waren riesig - Hunderte von Millionen Lichtjahren, und das sprach für die Existenz massiver Neutrinos. Die Vermutung, daß die dunkle Materie aus massiven Neutrinos bestand, erhielt neue Nahrung, als andere Gruppen von Astronomen Beispiele für gewaltige kosmische Strukturen anführten - oder, im berühmtesten Fall, für eine Art kosmischer Antistruktur, den Bootes-Leerraum. Vier Astronomen aus vier verschiedenen Institutionen - Robert Kirshner, Augustus Oemler, Paul Schechter und Steve Shectman (der Davis mit seinem elektronischen Fachwissen geholfen hatte) - hatten ihre eigene Version einer Rotverschiebungsstudie durchgeführt. Ihre Technik stellte eine Ergänzung zu dem Vorgehen des CFA-Teams dar: Anstatt den ganzen Himmel bis zu einer einheitlichen Tiefe abzusuchen, hatten sie einige ausgewählte Regionen herausgepickt und sie intensiv untersucht mit dem Ziel, Galaxien in größtmöglicher Entfernung zu erfassen und deren Rotverschiebung zu messen, ähnlich wie Geologen Probebohrungen vornehmen. Eines ihrer Testfelder lag im Sternbild Bootes. Im Jahr 1981 gaben sie bekannt, daß sie auf ein Gebiet in dem Sternbild gestoßen waren, das eine große Zahl von Galaxien enthielt. Aus den Rotverschiebungen der Galaxien ergab sich, daß sie alle entweder relativ nahe oder sehr weit entfernt waren. Zwischen den beiden Ballungen erstreckte sich ein Leerraum mit einer Tiefe von dreihundert Millionen Lichtjahren*, in dem sich keine Galaxien befanden. Dieser sogenannte Bootes-Leerraum war dreimal so groß wie die in der CFA-Stu-die beschriebenen Leerräume. Er hatte einer Schätzung zufolge das halbe Volumen des gesamten von der CFA-Studie erfaßten Gebiets, war jedoch nicht vollständig ausgelotet. Das Gebiet im Bootes war so riesig, daß die Gesichtsfelder der Teleskope es nicht voll erfassen konnten. Kirshner und seine Mitarbeiter verglichen ihre Untersuchung damit, daß man sich Bleistifte durch eine Wassermelone steckt. Vielleicht hatten sie die Kerne nur zufällig verfehlt.

Die Entdeckung des Bootes-Leerraums heizte das Pfannkuchen-Neutrino-Fieber noch weiter an. Nur Wolken von massiven Neutrinos hatten, wie es schien, derart riesige Strukturen im Universum schaffen können. Das von Seldowitsch entwik-kelte »Top-bottom-Modell« der Galaxienentstehung eroberte das Universum der Kosmologen.

Eine Zeitlang stand Peebles fast allein mit seiner Abneigung gegen Pfannkuchen. Er erklärte in einer langen, sehr mathematisch orientierten Arbeit, daß sich die Galaxien erst vor sehr kurzer Zeit gebildet haben konnten, wenn sie nach den Haufen entstanden waren. Der Superhaufen wirkte jedoch eher jung; Er hatte noch keine sphärische Form angenommen, sondern war noch unregelmäßig strukturiert, so als befände er sich noch im Prozeß der Entstehung. Im Unterschied dazu wirkten die Galaxien alt. Sie enthielten siebzehn Milliarden alte Kugelhaufen und Quasare, neugeborene Galaxien, aus deren Rotverschiebungen sich ablesen ließ, daß sie im ersten Viertel der Geschichte des Universums entstanden waren. Für Peebles machte es noch immer mehr Sinn, daß sich das Universum vom Kleinen zum Großen gebildet hatte.   - Dennis Overbye, Das Echo des Urknalls. München 1993

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