od, sanfter  In London zeigte sich ein kleines Unwohlsein. Eine Geschwulst am unteren Teil seines Körpers, die infolge jahrelanger, charakteristischer insouciance zu beunruhigender Größe angewachsen war, erforderte Beachtung; eine Operation war nötig; aber sie verlief gut, und es schien keine Gefahr zu sein. Noch einmal speiste Mr. Gibbon auswärts; noch einmal sah man ihn in seiner gewohnten Positur mit vorgestrecktem Zeigefinger eine ganze Gesellschaft unterhalten und am Schluß jeder besonders gelungenen Bemerkung seine Tabatiere beklopfen. Aber die Krankheit kam wieder; durchaus nichts Ernstes. Der große Mann lag zu Bett und erwog, wie lange er noch leben würde - er war sechsundfünfzig -, zehn, zwölf, vielleicht zwanzig Jahre. Er aß ein Stück Huhn und trank drei Gläser Madeira. Das Leben schien fast so hübsch wie sonst. »Je suis plus adroit«, sagte er am nächsten Morgen, als er für einen notwendigen Augenblick aus dem Bett stieg, mit seinem eigentümlichen Lächeln zu seinem französischen Kammerdiener. Wieder im Bett, murmelte er noch etwas, ein wenig unzusammenhängend, legte sich in die Kissen zurück, dämmerte ein, wurde halb wach, dämmerte wieder ein und verlor das Bewußtsein - für immer.   - Lytton Strachey: Das Leben, ein Irrtum. Acht Exzentriker. Berlin 1999

Tod, sanfter (2)   «Seit drei Monaten habe ich kein Kind mehr getauft. Zur Messe sind nie mehr als fünf Personen gekommen: Vier Afrikaner und eine alte Bretonin; ich glaube, sie •war zweiundachtzig Jahre alt; früher bei der Eisenbahn angestellt. Sie war schon seit langem verwitwet; ihre Kinder besuchten sie nicht mehr, sie hatte nicht einmal deren Adresse. Eines Sonntags habe ich sie nicht in der Messe gesehen. Ich ging zu ihr, sie wohnt in den Blocks dort drüben ... (die Bierflasche in der Hand, machte er eine undeutliche Geste, sodass ein paar Tropfen auf den Teppich fielen). Ihre Nachbarn sagten mir, sie sei überfallen worden; man habe sie ins Krankenhaus gebracht, aber sie sei nicht sehr schwer verletzt. Ich fuhr ins Krankenhaus: Es würde natürlich eine Weile dauern, bis ihre Brüche verheilt waren, aber es bestand keine Lebensgefahr. Eine Woche später, als ich wieder kam, war sie tot. Ich habe Erklärungen verlangt, aber die Ärzte haben jede Auskunft verweigert. Sie war bereits eingeäschert worden; niemand aus der Familie war gekommen. Ich bin sicher, dass sie ein kirchliches Begräbnis gewollt hätte; sie hat es mir zwar nicht gesagt, denn sie sprach niemals vom Tod, aber ich bin sicher, dass sie das wollte.» Er nahm einen Schluck und fuhr fort: «Drei Tage später bekam ich Besuch von Patricia.» Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm, wo das Programm ohne Ton lief; eine Sängerin im schwarzen Glitzertanga wurde von Pythonschlangen oder Anakondas umringt. Ich lenkte meinen Blick wieder auf Buvet und versuchte, ein teilnahmsvolles Gesicht zu machen. Er fuhr fort:

«Sie wollte beichten, aber sie wusste nicht wie, sie kannte die Prozedur nicht. Patricia war Krankenschwester in der Abteilung, in die man die Alte gebracht hatte; sie hatte die Ärzte untereinander sprechen hören. Sie wollten nicht, dass sie all die Monate, die zu ihrer Genesung nötig waren, ein Bett belegte; sie sagten, das sei eine überflüssige Last. Also beschlossen sie, ihr eine Mischung aus starken Beruhigungsmitteln zu verabreichen, die unter bestimmten Umständen einen schnellen und sanften Tod bewirken. Sie haben zwei Minuten diskutiert, länger nicht. Dann hat der Stationschef Patricia gebeten, die Injektion vorzunehmen. Sie tat es noch in derselben Nacht, Es war das erste Mal, dass sie eine Euthanasie durchführte; ihre Kolleginnen tun das ziemlich oft. Sie ist sehr schnell gestorben, im Schlaf. Seitdem konnte Patricia nicht mehr schlafen; sie träumte von der Alten.»  - Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone (1999, zuerst 1994)

 

Tod

 

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Sanftheit
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