od, brüllender
Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf
Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu
werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon,
verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache,
spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu
sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben:
verlangte. Verlangte und schrie.
Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den
übermüden Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen
versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte,
brüllte so lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten,
verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen,
schlanken, zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es
durch die weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er
brüllte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und
blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber war. Und die
Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die
entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschläge; aber
sie hörten es, sie hörten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und
sie flehten, auch aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und
setzten sich zu den ändern mit ihrenverwischten Gesichtern. Und die
Kühe, welche kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und verschlossen, und
einer riß man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als
sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und
vergaßen das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage ängstigten vor
der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten
Aufstehen so ermattet waren, daß sie sich auf nichts besinnen konnten.
Und wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche Kirche gingen, so
beteten sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser
war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das
sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine
Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es,
die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht
dröhnte und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu läuten
begann, nichts vermochte.
- Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge. Fankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)
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