ischzeit  Nur das Trinken verherrlicht die Poesie? Wie wenn die Poesie auch eine flüssige Seele wäre? Das Essen weckt den Witz und die Laune - daher Gourmands und dicke Leute so witzig sind - und beyrn Essen so leicht Scherz und muntere Unterhaltung entsteht. Auch auf andre solide Fähigkeiten wirckts. Bey Tisch streitet und raisonnirt man gern und vieles Wahre ist bey Tisch gefunden worden. Der Witz ist geistige Electricität - dazu sind feste Körper nöthig - Auch Freundschaften werden leicht bey Tische gestiftet - Unter den eisernen Leuten am leichtesten - wer ahndet hier nicht Seelenmagnetism? Die Tischzeit ist die merckwürdigste Periode des Tages - und vielleicht der Zweck - die Blüthe des Tages. Das Frühstück ist die Knospe. Die Alten verstanden sich auch hier besser auf die Philosophie des Lebens -  Sie aßen nur Einmal, außer den Frühstück - und zwar nach vollbrachten Geschäften gegen Abend. Das doppelte Essen schwächt das Interresse. Zwischen dem Essen - Schauspiel - Musik und Lectüre - Die Mahlzeit selbst eine Curve, nach ächter BildungsLehre des Lebens. Mit der leichtesten Speise den Anfang gemacht - dann gestiegen - und mit der Leichtesten wieder geschlossen. Das Essen muß lang währen - die Verdauungszeit über - den Schluß macht am Ende der Schlummer. - Novalis, Teplitzer Fragmente (1798)

Tischzeit (2)  Philomele ist nicht Philomele, sondern ihr Gemahl. Und wenn das Nachtigallenmännchen singt, singt es nicht im Schmerz, nicht aus Liebesleidenschaft, nicht in Ekstase, sondern einfach, um andern Nachtigallenmännchen kundzutun, daß es ein Territorium abgesteckt hat und bereit ist, es gegen alle, die da kommen mögen, zu verteidigen. Und was veranlaßt den männlichen Vogel, zur Nachtzeit zu singen? Eine Leidenschaft für den Mond? Eine Baudelairesche Liebe für Dunkelheit? Durchaus nicht. Wenn er mit Unterbrechungen die Nacht hindurch singt, geschieht das, weil er, wie alle Angehörigen seiner Spezies, die Art von Verdauungssystem besitzt, die ihn jede vier oder fünf Stunden im Lauf der vierundzwanzig zwingt, Futter zu sich zu nehmen. Während dieser Zeiten der Nahrungsaufnahme warnt er zwischen einer Raupe und der nächsten seine Rivalen (tju, tju, tju) davor, in sein Privatrevier einzudringen. - Aldous Huxley, nach C. P. Snow, Die zwei Kulturen. In: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschftliche Intelligenz. Hg. Helmut Kreuzer, München 1987 (zuerst 1959/69)
 
Essen Tag
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